# taz.de -- Politische Bildungsarbeit in Sachsen: Zukunft in Zwickau | |
> Seit 2019 finanziert das sächsische Sozialministerium Zukunftsworkshops | |
> in Sachsen. Die taz war bei einer solchen „Zeitreise in die Zukunft“ | |
> dabei. | |
Bild: Mitten in Zwickau | |
Zwickau taz | Am Ende steht es zehn zu fünf. Zehn Schülerinnen und Schüler | |
stellen sich in jene Ecke des Projektraums, in der sich die Skeptiker | |
sammeln. Nichts Gutes bringe die Zukunft, eher mache sie die Dinge | |
komplizierter. Die politischen Ränder werden stärker, sagt einer, die | |
Krisen seien kaum mehr zu bewältigen, meint ein anderer. Eine Schülerin | |
fürchtet ein konservatives Rollback. „Die Diskriminierung nimmt zu, Rechte | |
wie das auf Abtreibung werden eingeschränkt.“ | |
Die fünf, die eher optimistisch in die Zukunft blicken, halten dagegen. | |
Einer begreift die Zukunft auch als Herausforderung, als Motivation, sich | |
einzumischen. „Wir sollten partizipieren, damit die Polarisierung der | |
beiden Lager nicht noch größer wird“, sagt er. | |
Die beiden Lager, die sich in diesem „Zukunftsworkshop“ im Zwickauer | |
[1][Käthe-Kollwitz-Gymnasium] an zwei sonnigen Oktobertagen | |
gegenüberstehen, sind die Verfechter der Demokratie und die, die sie | |
abschaffen wollen. Ein Szenario mit realem Hintergrund. Denn am Abend des | |
ersten Tages haben einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wieder einmal | |
erleben können, mit welchen Parolen Letztere in [2][Zwickau] auf die Straße | |
gehen. | |
## Die Bedrohung ist real | |
„Widerstand“ hieß es auf einem Transparent der „Montagsdemonstration“ … | |
dem Hauptmarkt der 100.000 Einwohner zählenden Stadt in Westsachsen. | |
„Widerstand“ skandierten die Demonstranten auch, als sie anschließend durch | |
die Altstadt marschierten. | |
„Ich habe zum ersten Mal seit der Wende Angst um die Demokratie“, sagt am | |
nächsten Morgen Dorit Seichter. | |
Dorit Seichter unterrichtet am Kollwitz-Gymnasium den | |
Geschichte-Leistungskurs. Debatten findet sie wichtig, seit vielen Jahren | |
schon organisiert sie deshalb das Veranstaltungsformat [3][„Schule im | |
Dialog“.] Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat einen | |
Besuch in der Schule angekündigt, Sahra Wagenknecht wird ihr neues Buch | |
vorstellen. | |
An den beiden Oktobertagen überlässt Seichter den Unterricht zwei | |
Praktikern der politischen Bildung und ihrem Zukunftsworkshop. Um | |
Verschwörungsdenken soll es gehen und darum, wie die Zukunft 2045 aussieht. | |
Aufgabe: Spielt eine Szene, in der es um das Ringen um die Wahrheit geht, | |
um Fake News, um die Argumente der Wissenschaft, um die Zweifel, sich | |
zwischen allem zu positionieren. Welches „Freeze“, also eingefrorenes | |
Szenenbild, fällt euch ein? | |
Eine Gruppe positioniert sich in der Mitte des Stuhlkreises. Der Zweifler | |
greift sich ans Kinn. In einigem Abstand steht einer, der mit dem Finger | |
auf den Zweifler zeigt. Blaming. Hinter ihm kniet jemand und himmelt ihn | |
an. Ein anderer steht daneben und tippt sich mit dem Finger an die Schläfe. | |
Dann die Auswertung: Der Zweifler ist in der Defensive, sagt einer. Eine | |
offene Situation, meint ein anderer. | |
## Das Grundgesetz im Würgegriff | |
Das Freeze, das eine Gruppe darstellt, in der nicht Jungs, sondern Mädchen | |
in der Mehrzahl sind, ist nicht offen. Ein Mädchen hält das Grundgesetz | |
hoch. Von hinten nimmt sie eine in den Würgegriff. Eine andere attackiert | |
mit einer Schere. Nur eine stellt sich vor das Mädchen mit dem Grundgesetz. | |
Die Schülerinnen und Schüler, die die Szene sehen, klatschen. Ist die | |
Situation noch beherrschbar oder ist sie schon dabei, gefährlich zu werden? | |
„Es gab schon Workshops, in denen es richtig gekracht hat unter den | |
Schülern“, sagt Paul Kuder. Der 43-Jährige hat an der | |
[4][Europa-Universität Viadrina] in Frankfurt (Oder) Kulturwissenschaften | |
studiert, in Dresden über Heidegger und Kierkegaard promoviert, seit | |
einigen Jahren arbeitet er für den Verein [5][Zeitgeist] in der politischen | |
Bildungsarbeit. „Die meisten Träger arbeiten in der politischen Bildung mit | |
Rollenspielen“, sagt Kuder. Eine EU-Ratssitzung oder eine Bundestagsdebatte | |
über die Maskenpflicht. „So können die Schülerinnen und Schüler | |
verschiedene Perspektiven einnehmen und entsprechend argumentieren.“ Das | |
Lernziel eines solchen Rollenspiels: Demokratie ist nicht einfach, es | |
braucht Zeit, Kompromisse zu finden, aber am Ende sind die Kompromisse | |
tragfähiger als eine Entscheidung, die im Alleingang getroffen wird. | |
Kuder, der am Zwickauer Kollwitz-Gymnasium den Workshop im Rahmen des | |
Programms [6][„Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“] anbietet, | |
hat einen anderen Ansatz. Statt eine Bundestagsdebatte nachzuspielen, | |
sollen sich die Schülerinnen und Schüler in die Zukunft beamen. „Indem sie | |
in verschiedenen Szenarien in die Zukunft sehen, machen sich die Schüler | |
bewusst, welche Konsequenzen politische und gesellschaftliche Entwicklungen | |
haben.“ | |
Seit 2019 bieten Kuder und seine Kollegen die Workshops in Sachsen an. Bis | |
2022 machten sie die Schülerinnen und Schüler zu [7][„Zeitzeugen der | |
Zukunft“.] In der zweiten Projektphase tragen die Workshops nun, wie auch | |
der in Zwickau, den Titel „Jugend schreibt Zukunft“. Der Höhepunkt ist | |
dabei die szenische Darstellung möglicher Zukünfte am zweiten Workshoptag. | |
## Was in Zukunft wichtig ist | |
Am Ende des ersten Tags geht es um die Dinge, die in Zukunft wichtig sein | |
werden. Auf einem Flipchart werden die Themen gesammelt. Dann werden sie | |
geclustert zu Trends. Künstliche Intelligenz ist einer von ihnen, Energie | |
ein anderer, dazu kommen Kommunikation, Gesundheit und Pflege, Bildung und | |
Arbeit. | |
Beim anschließenden Brainstorming stellt sich heraus, dass fast alle | |
Schülerinnen und Schüler mit Themen wie Metaverse, technologischer | |
Singularität oder Brain-Computer-Interface vertraut sind. Mehrfach fällt | |
die Aussage, dass die Lebensmittel in Zukunft aus dem Drucker kommen | |
werden. | |
„Die Pandemie hat uns dabei geholfen, dass man sich mehr an Szenarien | |
vorstellen kann als zuvor“, sagt Thomas Mehlhausen, der zusammen mit Paul | |
Kuder das Konzept für die inzwischen mehr als 50 Workshops entwickelt hat. | |
Als Projektleiter des Zeitgeist-Vereins hat Mehlhausen viel Lob für das | |
Toleranzprogramm der sächsischen [8][Sozialministerin Petra Köpping (SPD)] | |
übrig. „Das Ministerium lässt den Trägern der politischen Bildung viel | |
Freiraum.“ Die Förderung wurde inzwischen von einem Jahr auf die Dauer von | |
drei Jahren ausgeweitet. „Das gibt Planungssicherheit“, sagt Mehlhausen. In | |
anderen Bundesländern seien die bürokratischen Hürden höher. | |
67 Demokratieprojekte mit einem Finanzierungsvolumen von 7 Millionen Euro | |
werden 2022 im Rahmen des Toleranzprogramms gefördert. „Mit dem | |
Landesprogramm Weltoffenes Sachsen leisten wir einen Beitrag zur Sicherung | |
von Strukturen und Expertise im Bereich der demokratischen Bildungsarbeit | |
in Sachsen“, ist Petra Köpping überzeugt. „Gerade in der heutigen Zeit ist | |
es wichtig, Engagement nachhaltig zu fördern.“ | |
Wie spielt man die Zukunft? Paul Kuder sagt am Morgen des zweiten Tags: | |
„Denkt euch drei Alltagssituationen aus, die im Jahr 2045 spielen. Was | |
bedeutet es für jeden, in der Gesellschaft der Zukunft zu leben?“ Sein | |
Workshoppartner Stephan Felsberg ergänzt: „Wer sind die Gewinner, wer die | |
Verlierer? Und wie blickt man in der Zukunft auf das Jahr 2022 zurück? War | |
da alles besser?“ | |
Zwei Stunden haben die Schülerinnen und Schüler nun Zeit. Kuder und | |
Felsberg haben Perücken mitgebracht, Sonnenbrillen, Bärte zum Ankleben. | |
Drei Gruppen mit jeweils fünf Schülern spielen je drei Szenen. Neun | |
Einblicke in die Zukunft werden also entstehen, die in einer Feedbackrunde | |
diskutiert werden. Die Szenen werden mit einem Audiogerät aufgenommen und | |
schließlich auf der Webseite von „[9][Jugend schreibt Zukunft]“ | |
veröffentlicht. | |
Die Mädchengruppe ist an der Reihe. Nachrichtensendung. Großbritannien im | |
Jahr 2045. Charles Webster kam 2028 durch demokratische Wahlen an die | |
Macht. Er schloss die Schere zwischen Arm und Reich. Weitere Wahlen gab es | |
nicht. Webster strebt die Alleinherrschaft mit Hilfe einer VR-Brille an. | |
Doch die Nachrichtensendung, die die fünf Schülerinnen aus der elften und | |
zwölften Klasse des Geschichte-Leistungskurses spielen, zeigt, dass es nach | |
wie vor Unruhe gibt in der Bevölkerung. Also verkündet die Sprecherin, die | |
Queen sei wieder auferstanden. Fake News, klar, einige kichern. „Mit dem | |
Hinweis auf Tradition versucht sich Webster eine Legitimität zu | |
verschaffen“, sagt eine Schülerin anschließend in der Feedbackrunde. Zuvor | |
muss sie noch mit ansehen, wie mitten in der Nachrichtensendung eine | |
Demonstrantin abgeführt wird. | |
Utopien oder Dystopien? Die meisten der drei Gruppen entscheiden sich für | |
Letzteres. Auch das vielleicht ein Grund, warum es am Ende zehn zu fünf | |
steht. | |
Einer, der zu denen gehört, die sich nicht bange machen lassen wollen, | |
sagt: „Wenn ich sage, es wird schlechter, dann ergebe ich mich dem Gefühl, | |
dass es schlechter wird.“ Worte wie diese hört Lehrerin Dorit Seichter | |
gerne. | |
24 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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