| # taz.de -- 10-jähriges Jubiläum der Dating-App: Ach, Tinder | |
| > Die Dating-App machte es endlich cool, auf der Suche nach Liebe zu sein. | |
| > Doch nicht auf der Suche nach Romantik zu sein, ist seitdem kaum möglich. | |
| Bild: Es war so einfach, mitzumachen, dass wir immer behaupten konnten, wir sei… | |
| Ach, Tinder. Am Anfang war es aufregend, deine Masche so simpel wie | |
| revolutionär, und dein Versprechen – die Freiheit. Du machtest es möglich, | |
| Menschen kennenzulernen, mit denen man zwei Eigenschaften gemeinsam hatte, | |
| die zuvor so viele Romanzen im Keim erstickt hatten: Die Person war in der | |
| Nähe, zumindest halbwegs, und sie war auf der Suche nach Liebe. Auch das | |
| halbwegs. | |
| Vorbei also das endlose Durchforsten von Onlineprofilen, um Hinweise auf | |
| einen Beziehungsstatus zu entdecken. („Vielleicht ist es seine Schwester, | |
| um deren Schultern sein Arm liegt?“) Vorbei auch verheißungsvolle Chats mit | |
| Menschen, die Hunderte Kilometer entfernt oder in einem Vorort, wo der Bus | |
| nur stündlich fährt, wohnten. („Lass uns am Freitag um 19.37 Uhr treffen, | |
| ich hab dann bis 22.21 Uhr Zeit.“) | |
| Nein, du schufst klare Verhältnisse. Und somit nahmst du, als du im | |
| September 2012 als kleines US-amerikanisches Start-up online gingst, einer | |
| ganzen Generation das Stigma des [1][Onlinedatens]. Uns Studierende | |
| wolltest du. Jene Gruppe also, die noch eine Kindheit kannten, in der | |
| Festnetztelefon und Internet um die Verbindung zur Außenwelt konkurrierten. | |
| Wir hatten uns allerdings schnell daran gewöhnt, den Onlinezugang in der | |
| Hosentasche zu tragen. | |
| Außerdem waren wir mit Warnungen aufgewachsen, dass Menschen aus dem | |
| Internet nicht zu trauen sei. Die zwielichtigen fremden Männer, die Kinder | |
| mit Bonbons lockten, boten nun aus den häuslichen Bildschirmen ihr | |
| Gefahrengut dar. | |
| Umso riskanter das Onlinedating. Das taten damals also nur die ganz | |
| Verzweifelten, die sich wegen ihrer vermeintlichen Makel am Offlinemarkt | |
| nicht behaupten konnten. (Schüchtern, religiös, über 30 Jahre oder über | |
| Kleidergröße 36, geschieden, mag Kink, oder eine Kombination davon.) | |
| Junge Menschen wie wir hatten sich gefälligst persönlich ins Gewühl zu | |
| werfen oder Teil eines geschlechtergetrennten Eroberungsfeldzugs zu werden, | |
| wie es uns die romantischen Komödien der Neunziger- und Nullerjahre | |
| vorgezeigt hatten: Eine zufällige Begegnung, eine schlagfertige | |
| Konversation, der Mann buhlt, die Frau ziert sich, fast scheitert es, ein | |
| Happy End. Und alle haben maximal Kleidergröße 36. | |
| Onlinedating war hingegen für Schwächlinge. | |
| ## Mit dir brauchen wir keine Freundinnen fürs Daten | |
| Du aber machtest es cool, auf der Suche nach Liebe zu sein. Das gelang, | |
| weil man bei dir nie offensichtlich auf der Suche war. Ein Foto, ein | |
| Vorname, ein Alter, und los – es war so einfach mitzumachen, dass wir immer | |
| behaupten konnten, wir seien nur zum Spaß dabei. Waren wir ja auch. Das | |
| Wischen durch die Fotos – rechts für Ja, links für Nein – war zu einem | |
| beliebten Spiel geworden. Kein Wunder, wir konnten ja nicht enttäuscht | |
| werden, denn ein „Nein“ sahen wir nie. Das Gegenüber erschien nur, wenn | |
| beide nach rechts swipten. | |
| Wir wischten uns die Daumen wund, bis du die Anzahl der täglichen | |
| Rechts-Swipes limitiertest. Außer, wir zahlten. Als du 2015 mit Tinder Plus | |
| startetest, taten das viele von uns gerne, deine Nutzerzahlen stiegen | |
| stetig. Mit Tinder Plus kam nämlich auch die Passportfunktion, eine | |
| beliebte Art der Urlaubsvorsorge: Es war nun möglich, an anderen Orten nach | |
| Dates zu suchen. Du gabst uns damit noch mehr Freiheit. | |
| Fürs [2][Dating] brauchten wir keine Freundinnen und Freunde mehr, die uns | |
| in die Bar begleiteten oder Partys schmissen. Wenn wir in eine neue Stadt | |
| zogen, füllten wir die erste Zeit der Einsamkeit mit Dates. Und wer weiß, | |
| vielleicht entstand daraus ja etwas. Schließlich kannte ja mittlerweile | |
| jeder und jede von uns ein Paar, das sich über dich kennengelernt hatte. | |
| Andere hatten immerhin neue Bekannte gefunden, und die unangenehmen | |
| Begegnungen taugten zumindest im Nachhinein als Erzählstoff. | |
| Es gab also keinen guten Grund, es nicht mit dir zu versuchen. Wer | |
| streikte, war faul. Wer niemanden fand, musste mehr suchen. Kurz, die | |
| Freiheit hatte einen Preis. Wir merkten viel zu spät, dass wir süchtig | |
| waren, und zwar nach der Hoffnung, die du uns gabst. Wir installierten dich | |
| mit dem Ziel, dich bald wieder zu löschen, wenn wir erst gefunden hatten, | |
| was wir suchten. Aber was war das? | |
| Du gabst uns Zunder, und nach all den Jahren schwant uns, was wir damit | |
| anzünden sollen: den Anspruch, dass wir [3][daten] sollen, weil das nun | |
| einmal ist, was junge Menschen tun. (Wobei wir ja mittlerweile gar nicht | |
| mehr so jung sind, was bedeutete, dass wir uns umso mehr beeilen müssen.) | |
| Du hast uns die Freiheit gegeben, nach Liebe zu suchen, und damit die | |
| Freiheit genommen, es nicht zu tun. | |
| Auf uns selbstoptimierte Millennials folgt die Generation Z, die zwar kein | |
| Einwählinternet mehr kennt, dafür aber besser darin ist, sich von | |
| gesellschaftlichen Ansprüchen zu trennen, mit denen sie nichts anfangen | |
| kann. Und siehe da, liebes Tinder, sie finden [4][dich gar nicht so toll]. | |
| Deine Nutzerzahlen sinken in den vergangenen zwei Jahren – obwohl du | |
| angeblich 2019 deinen umstrittenen Algorithmus so geändert hast, dass nicht | |
| weiterhin die beliebtesten Userinnen und User immer mehr Matches anhäufen, | |
| während andere leer ausgehen; obwohl du 2020 Sicherheitsfunktionen | |
| eingeführt hast, denn die zwielichtigen fremden Männer boten keine Bonbons, | |
| sondern Bilder ihrer Genitalien; und obwohl du mit [5][„Tinder U“] wieder | |
| eine Plattform gestartet hast, die deine ursprüngliche Zielgruppe erreichen | |
| soll, die Studierenden. | |
| Du hast es cool gemacht, auf der Suche nach Liebe zu sein. Gleichzeitig | |
| hast du aber die Hoffnung, diese auch zu finden, noch stärker in unsere | |
| Ansprüche verwoben. [6][Keine Romantik im Leben] zu haben ist nur noch dann | |
| in Ordnung, wenn wir uns weiterhin bemühen, sie zu finden. Und du machst es | |
| verlockend einfach, es noch einmal zu probieren. Ein allerletztes Mal. Wir | |
| brauchen nur unsere Daumen. Ach, Tinder. | |
| 18 Sep 2022 | |
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| [4] /Urteil-gegen-Altersdiskriminierung/!5481664 | |
| [5] https://www.help.tinder.com/hc/de/articles/360015516052-FAQ-zu-Tinder-U | |
| [6] /Aromantik-im-Alltag/!5864368 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Goldenberg | |
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