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# taz.de -- Energierechnungen verweigern: Das Mütchen wärmen
> Gegen die auf Unterschichten abgewälzten Teuerungen gibt's in
> Großbritannien die Initiative „Don’t pay, UK“. Im Schuldturm wäre es
> wenigstens warm.
Bild: Reaktivier- und beheizbar: Schuldturm bei Nürnberg
Wer kennt ihn nicht, den wohl ältesten Traum der Menschheit, und wir reden
nicht vom Fliegen. Das haben wir schließlich längst zufriedenstellend
gelöst, im Paket mit Speedy Boarding und zusätzlicher Beinfreiheit. Nein,
die Rede ist vielmehr von einer derart verlockenden und alles verändernden
Utopie, dass im Vergleich die von den Gläubigen herbeigebarmte Ankunft des
Heilands auf Erden nur ein Postbote ist, der ein Paket mit Hundefutterdosen
für die Nachbarn bringt: einfach unsere Rechnungen nicht zu bezahlen.
In Großbritannien rückt der Traum nun näher. Wegen der allgemein steigenden
Lebenshaltungskosten hat sich dort [1][die Initiative „Don’t pay, UK“]
gegründet, die dazu aufruft, ab dem ersten Oktober die Strom- und
Gasrechnungen nicht mehr zu bezahlen, sollten Regierung und
Energieunternehmen bis dahin nicht für erschwingliche Energiepreise gesorgt
haben. Dabei haben die dort noch nicht mal eine Gasumlage.
Apropos, wie sähe das denn hierzulande aus: Wenn eine deutsche Initiative
beispielsweise unter dem Namen „Nicht latzen, ihr Bratzen!“ zur
Zahlungsverweigerung aufriefe, was dann? Womöglich würde die Stimmung hier
noch stärker kippen als in Großbritannien, allein aufgrund unserer
jüngsten, erschreckend schönen Erfahrungen mit dem Nicht- beziehungsweise
Kaumbezahlen.
Da hat Finanzminister Christian Lindner nämlich völlig recht. Unsere
Zahlungsmoral hat ohnehin schon gefährliche Schlagseite erhalten – zu viele
haben sich bereits ans von Mami Staat großzügig dargereichte Zuckerbrot
gewöhnt. Man hat uns verhätschelt wie dicke kleine Kinder. Neid, Gier und
Gratismentalität haben unsere Seelen zerfressen. Wir haben jetzt drei
Monate lang die Welt gesehen, vom Bodensee bis zur Uckermark, ohne zu
bezahlen, und werden wohl niemals wieder auf diese bedingungslose, naive
Gefügigkeit zurückfallen, wie sie uns Untertanen in der Vorstellung der
Mächtigen am besten zu Gesicht steht. Wir sind sehend geworden; die aus
zahllosen Umstiegen von einer überfüllten Regiobahn in die andere gewonnene
Erfahrung, Reife und bürgerliche Mündigkeit können sie uns nie mehr
wegnehmen.
## Mahnungen, Säumnisaufschläge, Gefängnis
Doch gegen den Zahlungsboykott spräche wohl noch immer die German Angst.
Die Einzelne kann schwer dagegen anstinken. Wie oft hab ich laut geschrien,
„das seh ich nicht ein, ich zahl das nicht“, und hab in meiner Ohnmacht am
Ende immer brav geblecht. Dazu kommt, dass der vormals positiv besetzte
zivile Ungehorsam in den letzten Jahren zunehmend vom Ruch des spinnerten,
pauschalisierenden und destruktiven Antidemokraten zugestänkert wurde.
Aber das ist Deutschland. Den britischen Initiatoren möchte man die Daumen
drücken, und sehen, was passiert. Im Normalfall dies: Es gibt Mahnungen,
Säumnisaufschläge, Schulden werden eingefordert, weiter nicht bezahlt,
Leistungen eingestellt, Urteile ergehen, Zwangsgelder können nicht
eingetrieben werden, und am Ende werden die Hartnäckigsten eingesperrt.
Vielleicht haben sie es dann wenigstens warm.
Doch was ist, wenn sich so viele Menschen daran beteiligen, dass der reiche
Rest komplett als Gefängnispersonal herhalten muss? Die hätten womöglich
gar keinen Bock drauf, 24/7 Zahlungsverweigerer zum Hofgang
durchzuschließen, anstatt schön im Golfklub Hugo zu trinken. Wie viele
Leute kann man also einsperren – in den USA läuft dazu schon lang ein
Feldversuch –, ehe das System kollabiert, weil mehr Menschen drinnen als
draußen sind? Allerdings müsste es Vorreiter geben, die es darauf ankommen
lassen. Und entgegen der Redensart beißen die Hunde immer die Ersten. Es
braucht also viel Mut. Aber woher soll der kommen?
29 Aug 2022
## LINKS
[1] https://dontpay.uk/
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Energiekrise
Gaspreise
Großbritannien
Schulden
Heizung
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