# taz.de -- Kunstausstellung in Baden-Baden: Schwarze Romantik der Gegenwart | |
> Fortschritt statt Oldtimer: Von der Kunsthalle Baden-Baden aus mäandern | |
> Kunstwerke, Raum und Erzählung aus „Nature and State“ bis in die Stadt. | |
Bild: Das Installationsprojekt von Ersan Mondtag weckt Erinnerungen an den S… | |
Das Eröffnungswochenende von „Nature and State“ fiel in Baden-Baden mit dem | |
beliebten Oldtimer-Meeting zusammen. Parallelwelten trafen aufeinander – | |
während Grada Kilombas Performance „O Barco/The Boat“ mit über einem | |
Dutzend schwarz gekleideten Performer*innen an die Geschichte des | |
Sklavenhandels erinnerte, reckten sich aus dem benachbarten Szenerestaurant | |
verdutzte Köpfe, die für den Concours d’élégance in die Stadt gekommen | |
waren. | |
Baden-Baden feierte klimabilanzverachtende Errungenschaften der | |
Automobilindustrie parallel zur Vernissage einer Ausstellung, die forschend | |
in die Kurstadt eindringen will. Kilombas Installation, die Umrisse eines | |
Bootes aus verkohlten Holzblöcken bildete, blieb noch einige Wochen im Park | |
stehen, umgeben vom Rauschen des Stadtbachs Oos – „alles fließt“ kann au… | |
als Leitsatz dieser Ausstellung gesehen werden. | |
Nach zwei von der Pandemie durchwachsenen Jahren ist das nicht mehr neue | |
Kuratorenteam aus Çağla Ilk und Misal Adnan Yıldız endlich in Baden-Baden | |
angekommen und will mit „Nature and State“ einen offenen Prozess für | |
temporäre Strukturen und kritische Erzählungen einleiten, die von | |
Herrschaft und Kontrolle berichten. | |
„Wir haben keine Staaten, keine Nationen, keine Präsidenten, keine | |
Premierminister, keine Häuptlinge, keine Generäle, keine Bosse, keine | |
Bankiers, keine Grundbesitzer, keine Löhne, keine Wohltätigkeit, keine | |
Polizei, keine Soldaten, keine Kriege“, wird hier die queere | |
[1][Science-Fiction von Ursula K. Le Guin] aus den 1970er Jahren zitiert. | |
## Anleitung zum Leben heute | |
All das findet bei Le Guin auf einem fremden Planeten statt und soll nun in | |
der Kunsthalle als eine Anleitung zum Leben in der heutigen Welt dienen. | |
Was naiv daherkommt, ist vielleicht eine Möglichkeit, heute in Anbetracht | |
der Weltlage an eine Zukunft denken zu können. Im großen Lichtsaal der | |
Kunsthalle hat der mehrfach ausgezeichnete Künstler Ersan Mondtag einen | |
antiken Tempel samt Wasserbecken gebaut, der als Museum, Bühne und Auftakt | |
des Rundgangs fungiert. | |
Dunkles Blau beherrscht den Raum, Schwarzwaldästhetik mit aufgemalten | |
Nadelbäumen auf den Wänden lässt eine Atmosphäre der Schwarzen Romantik | |
aufkommen. Mehrfach wurde darin die Tanzperformance „Becoming Sculptures“ | |
aufgeführt, die wie ein lebendig gewordenes Gemälde des Schweizer | |
Symbolisten Ferdinand Hodler wirkte, wenn die Performer*innen zuerst | |
phlegmatisch und schließlich immer schneller durch das Wasser des Tempels | |
tanzten. | |
Im Laufe der Ausstellung soll das Wasserbecken austrocknen und damit die | |
politische Dimension des Klimawandels und Wasser als verbindendes Element | |
der Ausstellung betonen. | |
Nicole L’Huillier breitet eine bunte Flagge, die gleichzeitig eine | |
Soundinstallation ist, von der Wand auf den Boden aus. Um die verfremdete | |
Akustik eines Gedichts der chilenischen Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral | |
zu hören, muss man sein Ohr dicht über die Membranen der Flagge halten und | |
sich damit intensiver mit der Umgebung befassen, als man es gewohnt ist. | |
Hier wird das Publikum auf Achtsamkeit trainiert, gleichzeitig | |
repräsentiert eine Flagge üblicherweise den Staat und damit zusammen mit | |
der Natur den zweiten Pol, zwischen dem die Ausstellungsobjekte mäandern. | |
## Staat als Gebilde der Erinnerung | |
Dass der Staat eher ein Gebilde der (zuweilen instrumentalisierbaren) | |
Erinnerung sein kann, zeigen Olga Chernyshevas schwarz-weiße Körper von | |
erschöpften postsowjetischen Menschen, die in der Ausstellung auf Collagen | |
aus Selbstporträts, gefundenen Objekten und Festplatten der türkischen | |
Multimedia-Ikone Ipek Duben stoßen. | |
„Nature and State“ will wie so viele Ausstellungen derzeit, nicht | |
[2][zuletzt die documenta fifteen], ein offener Prozess sein. Doch dieser | |
scheint hier in eine ferne Welt verfrachtet zu sein. Trotzdem gelingt es | |
Çağla Ilk und Misal Adnan Yıldız, die – wenn auch etwas beliebig | |
ausgewählten – Kunstwerke in einen Fluss zu bringen. | |
Letztlich ist die ungewöhnliche Auswahl von über 30 Künstler*innen für | |
die verschlafene Kurstadt Baden-Baden eine gelungene Erfrischung. Man | |
möchte diesem Traum eine Chance geben und die Oldtimer hinter sich lassen. | |
29 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Elena Korowin | |
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