# taz.de -- Konflikt um Taiwan: Ein Selfie und seine Geschichte | |
> Menschenrechtler Wu’er Kaixi und Nancy Pelosi begegnen sich auf einem | |
> nichtöffentlichen Treffen. Der 54-Jährige lebt seit 1996 in Taiwan im | |
> Exil. | |
Bild: Wu’er Kaixi und Nancy Pelosi bei ihrem Treffen in Taiwan in der vergang… | |
Das Treffen mit dem Potenzial, Peking zu reizen wie kaum ein anderes, hatte | |
noch gar nicht richtig begonnen, da gab es schon die erste | |
Grenzüberschreitung. Nancy Pelosi betrat den Saal, hielt geradewegs auf die | |
Wartenden zu und umarmte einen kräftigen, graumelierten Mann mit einer | |
Stars-and-Stripes-Maske. Ein Verstoß gegen Taiwans Coronaregeln. Allen war | |
eingeschärft worden, dass Pelosis Delegation streng abgeschirmt unterwegs | |
war und man sich nicht einmal die Hände geben sollte. | |
Es war der Nachmittag des 3. August, der letzte Termin während Pelosis | |
nicht einmal 24-stündigem [1][Taiwanbesuch], den sie trotz aller Warnungen | |
aus China durchgezogen hatte. Die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses | |
hatte Taiwans Parlament besucht, die Präsidentin getroffen, und nun saß die | |
82-Jährige im Nationalen Menschenrechtsmuseum am Stadtrand von Taipeh einer | |
illustren Runde von Chinakritikern gegenüber. | |
Der von ihr Umarmte ist für China seit Jahrzehnten mindestens ein so rotes | |
Tuch wie Pelosi seit dieser Reise. Einige Tage später sitzt Wu’er Kaixi in | |
einem Café und schildert die Szene. „Ich erinnerte sie daran, dass wir uns | |
auf den Tag genau vor 33 Jahren zum ersten Mal in Washington trafen, am 3. | |
August 1989.“ Pelosi war damals eine noch wenig erfahrene Abgeordnete im | |
Menschenrechtsausschuss – und Wu’er Kaixi, dessen ursprünglich uigurischer | |
Name im Ganzen genannt wird, einer der wichtigsten Studentenführer vom | |
Platz des Himmlischen Friedens. Keine zwei Monate vorher hatte der | |
gebürtige Pekinger sich nach der brutalen Niederschlagung der | |
Demokratiebewegung ins Ausland retten können. Es folgten viele weitere | |
Treffen. In Taipeh habe Pelosi ihn den fünf anderen Abgeordneten ihrer | |
Delegation als „Freund“ vorstellt, erzählt er. | |
Von dem 54-Jährigen, der seit 1996 im Exil in Taiwan lebt und seit einigen | |
Jahren als hauptberuflicher Lobbyist für die bedrohte Demokratie seiner | |
neuen Heimat viele Washingtoner Hinterzimmer kennengelernt hat, lässt sich | |
einiges erfahren über die Hintergründe von Pelosis weltweit Aufsehen | |
erregender Reise – und über die Frage, ob sie Taiwan unterm Strich dringend | |
nötige Aufwertung oder nur noch mehr Ärger mit China brachte. | |
Klare Botschaft, klarer Ort | |
Pekings Proteste und damit der ganze Wirbel begannen mit einem Leak. Am 19. | |
Juli verriet die Financial Times unter Bezug auf anonyme Quellen die | |
Reisepläne. Würde Pelosi es wirklich tun oder doch noch zurückschrecken? | |
Bis ihre Air-Force-Maschine in Taipeh aufsetzte, gab es keine offizielle | |
Bestätigung, und auf den Meinungsseiten der Weltpresse stritt sich die | |
Klare-Kante-Fraktion mit Team Vorsicht. Wu’er Kaixi war da bereits | |
eingeweiht, denn am oder kurz vor dem 19. Juli – genau wisse er das nicht | |
mehr – habe Nancy Pelosis Büro angerufen. Ob er Anfang August in Taipeh | |
wäre? „Ich wollte so sehr, dass dieser Besuch stattfindet. Natürlich habe | |
ich das für mich behalten, um ihn nicht zu gefährden.“ | |
Nicht nur die Teilnehmer des Treffens mit Pelosi, auch der Ort sollte eine | |
klare Botschaft senden: Taiwan ist ganz anders als China. Kaum etwas | |
verkörpert diesen Wandel von einer Diktatur zu einer der freiesten | |
Demokratien Asiens besser als diese Ansammlung von Baracken vor einem | |
Gefängnisbau mit Wachtürmen, Zellenblocks und Stacheldraht. Bis in die | |
1980er Jahre sprachen hier Militärtribunale Unrecht, verurteilten | |
politische Gefangene zum Tode oder zu langer Haft in primitiven Zellen. | |
Heute führen ehemalige Insassen Besucher herum, möglichst viel ist im | |
Originalzustand erhalten – wie im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen, | |
mit dem das Menschenrechtsmuseum sich schon lange austauscht. | |
Neben dem Uiguren und früheren Studentenführer Wu’er Kaixi traf Pelosi hier | |
einen weiteren Exilanten, Lam Wing-Kee. Der pekingkritische Buchhändler aus | |
Hongkong war 2015 nach China verschleppt und eingesperrt worden. Seit 2019 | |
lebt er in Taipeh und führt hier wieder einen Buchladen, frei von Zensur. | |
Außerdem kam der Taiwaner Lee Ming-che, ein frühes Opfer von Chinas | |
härterem Kurs gegen Taiwan. 2017 verschwand der Demokratieaktivist während | |
einer Reise nach China. Es war ein Jahr nach dem Amtsantritt von | |
Präsidentin Tsai Ing-wen, für Peking eine Separatistin. Ein Exempel sollte | |
statuiert werden. Nach Monaten tauchte Lee wieder auf, für einen | |
Schauprozess wegen „Untergrabung der Staatsgewalt“. Bis vergangenen April | |
saß er in chinesischer Haft. Und auch den Vertreter des Dalai Lama in | |
Taiwan, Kelsang Gyaltsen Bawa, traf die amerikanische Nummer drei. | |
Taiwan, Tiananmen, Tibet – die drei großen T, die Peking aus der Haut | |
fahren lassen. Dazu Hongkong und die Uiguren. Als sei es darum gegangen, | |
möglichst viele rote Linien Chinas zu übertreten. Das einstündige Gespräch | |
sei „viel mehr symbolisch als substanziell“ gewesen, sagt Wu’er Kaixi, und | |
Pelosis ganzer Besuch „ein klares konfrontatives Statement gegen Peking“. | |
Die USA wollten keine Eskalation, würden bei Taiwan aber künftig nicht mehr | |
vor Konfrontationen zurückschrecken. Team klare Kante. „Falls die Welt das | |
noch immer nicht verstanden hatte, dann sollte dieses Treffen es noch | |
klarer machen.“ | |
Wenn also galt „The Meeting is the Message“ – warum machte es keine | |
Schlagzeilen, warum liefen keine Bilder in den Nachrichten? [2][Zwar | |
richtete die Welt ihr Augenmerk bereits auf die von China angekündigten | |
Militärübungen vor Taiwans Küste]. Aber es war keine Presse im Raum | |
gewesen, und im Nachhinein veröffentlichte die US-Vertretung in Taipeh | |
weder Fotos noch Videomaterial. Auch auf Anfrage äußerte sich die | |
Vertretung nicht. Wu’er Kaixi kann sich keinen rechten Reim darauf machen. | |
Dass jemand entschied, China lieber doch nicht zu sehr vor den Kopf zu | |
stoßen, mag er nicht glauben. Natürlich würde er gern das offizielle | |
Gruppenfoto sehen, das am Rande des Treffens gemacht wurde. „Aber das | |
Statement ist gesetzt. Das zählt.“ | |
## Falsche Narrative im Westen? | |
China beginnt nun damit, den Sack um Taiwan zuzumachen, Joe Biden war | |
unglücklich über Pelosis Reise – diese Narrative, die auch im Westen viele | |
Berichte bestimmten, hält Wu’er Kaixi für falsch. Wie wohl die meisten | |
Taiwaner – er ist seit 1999 Staatsbürger und hat hier eine Familie | |
gegründet – empfand er nach Jahrzehnten der Drohungen und Schikanen Chinas | |
tagelange großangelegte Militärübungen weniger als bedrohliche Eskalation, | |
sondern als Routine. | |
Pelosis Besuch markiere den Beginn einer neuen Taiwan-Politik der USA, | |
davon ist Wu’er Kaixi überzeugt. Seine Gespräche im US-Kongress, Außen- und | |
Verteidigungsministerium – in den letzten zwei Jahren besuchte er für die | |
Menschenrechtskommission von Taiwans Parlament viermal Washington – stimmen | |
ihn optimistisch: Die „jahrzehntelange Appeasement-Politik China gegenüber“ | |
werde korrigiert, die USA würden wieder die Spielregeln bestimmen. Die | |
Europäer, so sein Eindruck, hätten noch nicht verstanden, dass der Wind | |
sich mit Pelosis Besuch zu drehen begonnen habe. | |
Bewusst irreführende Aussagen haben wohl dazu beigetragen. „Das Militär | |
hält das gerade für keine gute Idee“, war Joe Bidens viel zitierter | |
Kommentar am 20. Juli zu einer möglichen Pelosi-Reise. Aber er, Biden, | |
wüsste nicht, wie der Stand sei. „Da habe ich nur gedacht: Du alter | |
Fuchs!“, sagt Wu’er Kaixi. „Wenn sogar ich an dem Tag schon in die | |
Reisepläne eingeweiht war, kann mir niemand erzählen, dass der Präsident es | |
nicht wusste.“ | |
Allerdings will nun auch China die Spielregeln neu definieren. Während der | |
Manöver flogen erstmals ballistische Raketen über die Insel hinweg. Die | |
Straße von Taiwan, durch die ein Großteil des globalen Güterverkehrs geht, | |
sei kein internationales Gewässer. Und die lange respektierte Mittellinie | |
der Meerenge als informeller Puffer spiele auch keine Rolle mehr. | |
Militäroperationen rund um Taiwan sollen die neue Normalität sein. Ein | |
US-Flugzeugträger blieb auf Abstand. | |
## Der neue Kurs | |
Die aktuelle Zeit des Politikwechsels stecke voller Unsicherheiten, räumt | |
Wu’er Kaixi ein, aber eigentlich bestehe keine große Gefahr. China seit bei | |
Weitem nicht bereit für einen echten militärischen Konflikt. In ein oder | |
zwei Monaten habe die Welt Amerikas neuen Kurs akzeptiert. Peking werde | |
sich widerwillig damit abfinden müssen. „Und dann ist Taiwan in einer viel | |
günstigeren Position als vor Pelosis Besuch.“ | |
Der Westen sei es den Taiwanern schuldig, mit ihnen gemeinsam ihre | |
Demokratie zu verteidigen, sagt Wu’er Kaixi noch. „Ihr habt uns | |
jahrzehntelang ausgeschlossen. Und während ihr im Status-quo-Denken | |
festgesteckt habt, ist Taiwan einfach weiter vorangeschritten.“ Bleiben | |
Chinas Säbelrasseln und Drohungen. „Die Volksrepublik will Angst | |
verbreiten. Helft ihr nicht dabei. Nichts wird wirklich passieren in dieser | |
Taiwankrise. Denn es gibt keine Taiwankrise.“ | |
Sollte er Recht behalten, wären das gute Nachrichten. Nicht nur für Taiwan. | |
13 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Bardenhagen | |
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