| # taz.de -- Die Wahrheit: Wohnen auf dem Pfahl | |
| > Das Problem der Wohnungsnot ist endlich gelöst. Die allerneueste Version | |
| > der Tiny Homes: Leben auf engstem Raum mitten im See. | |
| Bild: Standfeste Asketen wohnen auf kleinstem Pfosten | |
| Das Angebot klang verlockend: „Wohnen, wo andere baden gehen! Tiny Home | |
| hoch über den kristallklaren Wassern des Tegernsees. Freiheit pur mit | |
| unverbaubarem 360-Grad-Panoramablick. Unkonventionelles Wohnambiente | |
| abseits der ausgetretenen Pfade. 450 Euro Kaltmiete, keine | |
| Nebenkosten.“Jens Seelow konnte sein Glück kaum fassen, als er nach einem | |
| Anruf bei „Dirk Deislers Immoparadies“ sofort vorbeikommen sollte und nach | |
| zehn Minuten seinen Mietvertrag in der Tasche hatte – ohne Schufa-Auskunft, | |
| ohne große Formalitäten. Die drei Monatsmieten Vermittlungsgebühr zahlte | |
| der 22-jährige Krankenpflegehelfer gerne, nachdem er nun schon monatelang | |
| nach einer bezahlbaren Bleibe Ausschau gehalten hatte. Aber im Millionärs- | |
| und Oligarchen-Hotspot Tegernsee war für einen Underperformer wie ihn | |
| offenbar kein Platz vorgesehen. Und nun dieser unglaubliche Glückstreffer! | |
| Er wunderte sich auch nicht über die Frage des smarten Immobilienmaklers, | |
| ob er ein guter Schwimmer sei. Begeistert berichtete er, dass er bei den | |
| Bundesjugendspielen den undankbaren vierten Platz über 100 Meter Brust | |
| gemacht hatte. Auch die Frage, ob er Probleme mit längerem Stehen habe, | |
| machte den treuherzigen Lausitzer nicht stutzig. Ganz im Gegenteil – er | |
| freute sich über die Anteilnahme und erklärte, dass ihm stehen mehr liege | |
| als, wenn man das so sagen könne, liegen. | |
| Wie es mit seinen handwerklichen Fähigkeiten bestellt sei, wollte Dirk | |
| Deisler noch wissen. Sehr gut, sehr gut – er sei ein begnadeter Heimwerker | |
| und schrecke auch vor kleineren Instandhaltungsmaßnahmen nicht zurück. | |
| Schon als kleiner Junge habe er … An dieser Stelle unterbrach der | |
| vielbeschäftigte Makler den diensteifrigen Redefluss und schlug vor, das | |
| Mietobjekt doch gleich mal in Augenschein zu nehmen. | |
| ## Funkelnder See | |
| Im senffarbenen Bentley Cabrio ging es dann zur Tegernseer Strandpromenade, | |
| wo Deisler mit weit ausholender Geste auf den funkelnden See zeigte. „Hier | |
| ist Ihr neues Zuhause! Ist es nicht wunderbar? Über den Wogen muss die | |
| Freiheit doch grenzenlos sein.“ Jens Seelow blickte verdutzt auf den See, | |
| auf den Wallberg im Hintergrund, konnte seine neue Wohnung aber beim besten | |
| Willen nicht entdecken. „Äh, wo bitte ist denn …“, stotterte er. | |
| „Na hier, der dritte Pfosten von links, ein Tiny Home in minimalistischer | |
| Designsprache.“ | |
| „Aber es war doch von 46 Quadratmetern die Rede …“ | |
| „46 qm für 450 Euro Monatsmiete, am Tegernsee? Sie scherzen wohl! 46 | |
| Quadratzentimeter misst dieser High-End-Pfosten mitten im | |
| Oligarchen-Paradies.“ | |
| „Aber wo soll ich denn schlafen? Das ist ja nur ein Pfosten, ein Pfahl!“ | |
| „Meine Güte, haben Sie denn noch nie was von Stand-up-Living gehört? Der | |
| heißeste Wohntrend für den kleinen Geldbeutel. Sie sind jung, fit, | |
| sportlich, da kann man doch die Ansprüche mal etwas runterschrauben. Dafür | |
| haben Sie hier fließend kaltes Wasser und diese grandiose Kulisse | |
| kostenlos. Und wenn es gar nicht anders geht, nageln Sie sich einfach eine | |
| Schlafbrett auf den Pfosten – Sie sind doch handwerklich begabt!“ | |
| ## Wasserdichte Schwimmboje | |
| Nachdem Jens Seelow den ersten Schock überwunden hatte, besorgte er sich | |
| beim Sporthaus Nickelgruber eine Schwimmboje, mit der er seine | |
| Habseligkeiten wasserdicht verstauen konnte und schwamm zu seinem Domizil | |
| hinaus. | |
| Es folgten herrliche Sommertage, an denen Jens Seelow seinen Pfahlbau zu | |
| schätzen lernte. War es zu heiß, sprang er einfach ins Wasser und kühlte | |
| sich ab. Schwamm ein paar Runden und kletterte behände auf seinen | |
| Wohnpfosten hinauf. Bald hatte er sich mit seinen Nachbarn angefreundet. | |
| Hussein, ein 24-jähriger Syrer, arbeitete als Küchenhilfe im Tegernseer | |
| Bräustüberl und „wohnte“ schon seit zwei Jahren über dem See, während d… | |
| 16-jährige Ukrainer Boris ebenfalls Neubürger in Tegernsee war und sich als | |
| Nichtschwimmer erst an das fremdartige Wohnumfeld gewöhnen musste. | |
| Als die erste Hitzewelle Temperaturen von über 30 Grad brachte, spendierte | |
| der FDP-Ortsverein jedem der Pfahlbürger einen Sonnenschirm. „Die hatten | |
| wir noch vom letzten Wahlkampf übrig“, erklärt Gemeinderat Christopher | |
| Bartok. „Damit wollen wir Freidemokraten ein Zeichen der Anerkennung | |
| setzen. Es ist doch bewundernswert, wie diese jungen Menschen mit | |
| Flexibilität und Eigeninitiative der Wohnungsnot ein Schnippchen schlagen! | |
| Ich bin stolz, sagen zu können, dass wir hier in Tegernsee mit der | |
| Genehmigung der Wohnpfosten den angespannten Wohnungsmarkt deutlich | |
| beruhigen konnten. Und es ist doch auch ein Beispiel, wie man mit | |
| unkonventionellen, kreativen Lösungen dem Ziel der Bundesregierung, 400.000 | |
| neue Wohnungen zu schaffen, ein klein wenig näher kommen kann.“ | |
| 23 Aug 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Rüdiger Kind | |
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