Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Brummender Tiger im Nahkampf
> Martial Arts auf den Straßen: Besuch bei einer Berliner Kampfschule für
> Verkehrsteilnehmer, die eine lukrative Marktlücke nutzt.
Die Coronapandemie hat auch viele Kampfschulen angezählt, zahlreiche
hatten, nun ja, zu kämpfen: zu viel Körperkontakt, zu wenig Abstand. Auf
einer gebrochenen Nase hält keine Maske. Doch auch seit Ende der
Einschränkungen läuft der Betrieb vielerorts nicht mehr wie vorher, dafür
erlebten Martial Arts Movies auf Netflix einen Boom, der so ungebrochen ist
wie die Knochen der Sofa-Fighter. Andere Stammkunden trainieren inzwischen
in der Ukraine.
Eine Berliner Kampfschule allerdings hat nun eine Marktlücke entdeckt und
bietet Nahkampfkurse für Verkehrsteilnehmer an. Der Laden namens „Traffic
Tigers“ brummt wie ein Laster ohne Abbiegeassistent.
In einer hässlichen Nebenstraße des Berliner Stadtteils Wedding liegen die
Trainingsräume versteckt im Hinterhof. Vor dem Ersten Weltkrieg war hier
die Königlich Preußische Schlagstockgießerei untergebracht, noch heute
zeugt eine gusseiserne Drechselmaschine davon. Nikolai sieht aus, als nutze
er diese als Hantel. Bei den „Traffic Tigers“ ist er der Schulleiter, zu
dem man lieber nichts in Büro gerufen werden möchte.
Es gibt sportlich ausgerichtete Trainingsstätten der Kampfkunst, diese
gehört eher nicht dazu. Schon der Lehrkörper schüchtert uns mächtig ein. Wo
keine Narbe in ihren Gesichtern ist, prangt ein martialisches Tattoo, das
aussieht, als habe es die Narben nebenan selbst geschlagen.
Nicolai ist in Belarus geboren und ein begehrter Türsteher. Mit seinen 2,06
Meter bringt er 140 Kilo auf die Waage. Wenn die Berliner Türsteher-Innung
zur jährlichen Weihnachtsfeier lädt, ist er der Türsteher. Sein Team,
bestehend aus Tarkan und Natascha, spricht dieselbe Körpersprache.
## Schreie aus dem Gymnastikraum
Aus dem Gymnastikraum dringen Schreie zu uns. „Arschloch!“, schallt uns aus
vielen Kehlen entgegen, als wir eintreten. Kurz wähnen wir uns auf einem
Ärzte-Konzert.
„Aufwärmübungen“, sagt Tarkan. „Da fangen wir immer mit Beleidigungen a…
Und tatsächlich: Alle Kursteilnehmer stehen im Kreis, heben abwechselnd den
Mittelfinger, schwenken ihre Hände vorm Gesicht und brüllen dann
Verwünschungen in den Raum, dass der Speichel nur so fliegt. Rhythmisch
zählt Natascha dazu ein: „Stin-ke-finger, Schei-ben-wi-scher, Arsch-loch!“
Die Aggressivität im Raum ist so greifbar, dass ein paar Stubenfliegen ohne
Fremdeinwirkung zu Boden rieseln.
Wir befinden uns im Kurs „Selbstverteidigung für Fußgänger“, den Natascha
gibt. Geduldig erklärt die ehemalige sächsische Juniorenmeisterin in Mixed
Martial Arts, wie man aggressive E-Scooter-Fahrer geschickt von ihren
Rollern holt. Tarkan und Natascha geben anschließend ein Pärchen auf dem
Roller.
„Es braucht nur einen kleinen Kick in die Kniekehle“, doziert Natascha. „…
besten immer auf die Person zielen, die hinten steht, wenn die das
Gleichgewicht verliert, hat der Fahrer auch keine Chance.“
Gesagt, getan. Nach ein paar vergeblichen Versuchen haben die Fußgänger den
Tritt raus. Tarkan und Natascha rollen sich jedes Mal geschickt ab – eine
Kunst, die die wenigsten angesoffenen Briten oder halbstarken
Vierzehnjährigen beherrschen. Bei ihnen dürften Handgelenk, Nase oder Stirn
den Bremsprozess übernehmen.
In einer Pause sprechen wir mit Luisa (Name von der Redaktion geändert),
einer Teilnehmerin. Sie lebt in Kreuzberg, unweit der Oberbaumbrücke, und
geht viel zu Fuß. „Zigmal wurde ich von Touris mit ihren E-Rollern schamlos
über den Haufen gefahren. Ich hab alles versucht: Ansprache, Anschnauzen,
Polizei. Hat alles nix genützt. Jetzt will ich nur noch wissen, wie man die
Arschlöcher vom Roller holt, und zwar so schmerzhaft wie möglich.“ Luisa
strahlt.
Es sind Erfahrungen wie diese, die die Menschen in die Kurse der „Traffic
Tigers“ treiben.
„Straßenverkehr in Großstädten, vor allem in Berlin, ist Kampf jeder gegen
jeden“, erklärt Tarkan. „Und jede gegen jede“, wirft Natascha ein. „Ge…
Und wir bieten Kurse für alle an!“
Aber ist das nicht eigentlich alles ganz schön schrecklich? Tarkan zuckt
mit den Schultern: „Der Kampf ist doch schon längst da. Und Kämpfen kann
man lernen! Dafür sind wir da.“
## Stehplatzverteidigung im Regionalexpress
„Die Leute sind eh schon voll aggro auf der Straße“, ergänzt Natascha. �…
kanalisieren das nur. Und zeigen ja auch, wie man sich verteidigt.“ Sie
verweist auf den ÖPNV-Selbstbehauptungskurs „Mein Platz gehört mir! Wie du
dir deinen Stehplatz im RE1 verteidigst“ – jeden Montag um 19 Uhr.
Doch blättert man weiter im Kursprogramm, wird der Kampf jeder gegen jeden
im Verkehr erneut greifbar, denn mittwochs gibt’s den Kurs: „Dein Platz
gehört mir. Wie du dir einen Stehplatz im RE1 eroberst.“
„Wir sind halt Dienstleister, weißt du“, sagt Tarkan. „Einmal hatten wir
den Kurs ‚100 Jahre Vorfahrt: Treten vom Roller‘ direkt nach der
Fußgängerselbstverteidigung. Das gab jedes Mal Keilerei auf dem Hof.“ Er
grinst. Sein Grinsen zeigt Gold, wo mal eine Zahnlücke oder mal ein
Schneidezahn war. „Aber inzwischen passen wir auf.“
Es gibt sogar Programme, die gefördert werden, darauf ist Schulleiter
Nikolai besonders stolz. Bei den Krankenkassen anerkannt sind
beispielsweise der Grundlagenkurs Körperarbeit „Extremitäten neu entdecken:
Ellenbogen, Knie und Faust“ und der Geburtsvorbereitungskurs „Wie man
Kinderwagen als Waffe einsetzt“. Die Gleichstellungsstelle des Senats
finanziert die Einheit „Manspreading für Einbeinige: Plätze im Nahverkehr
finden trotz Handicap“. Jede und jeder kann ein Traffic Tiger sein. Nicht
umsonst lautet das Motto der Kampfschule: „Wir wecken den Tiger in dir.“
Letzte Frage an Tarkan: Bieten sie auch Kurse für automobilisierte
Verkehrsteilnehmer an? Also Menschen, die Lastwagen oder SUVs steuern?
Tarkan schüttelt den Kopf: „Nee, is nicht unsere Welt. Wir sind
Kampfschule, weißt du. SUV ist Krieg.“
Nachdenklich und mit ein paar blauen Flecken mehr verlassen wir die
„Traffic Tigers“. „Wichser!“, schallt uns aus dem Gymnastikraum hinterh…
„Schreib nichts Falsches über uns“, sagt Nikolai zum Abschied und begleitet
uns zu den Fahrradständern. „Wir wissen, wo dein Radweg ist.“
13 Aug 2022
## AUTOREN
Volker Surmann
## TAGS
Straßenverkehr
Mixed Martial Arts
Kampfsport
Haare
Die Wahrheit
Agentur für Arbeit
Mpox
Oligarchen
Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Büschel und Puschel
Die neueste stylische Mode aus New York ist jetzt in Berlin angekommen:
Endlich sind Nasen- und Ohrenhaare total hip.
Die Wahrheit: Kommt nun der Waschzwang?
Die Bundesregierung bietet jetzt Kurse zur energieeffizienten Körperpflege
an. Zur Zeitenwende gehört auch ein Waschwechsel.
Die Wahrheit: Verschluckt vom Erdboden
Wo ist nur all das Personal, wo sind die ganzen Fachkräfte hin? Eine
Spezialeinheit der Bundesagentur für Arbeit ermittelt.
Die Wahrheit: Von Freunden totgestreichelt
Die ansteckenden Affenpocken sind erst der Anfang. Eine Übersicht neuer
Krankheiten mit tierischer Durchschlagskraft.
Die Wahrheit: Vegetieren in der Sechstwohnung
Der Krieg in der Ukraine fordert immer mehr Opfer. Ein Besuch beim
Oligarchengattinnen-Hilfswerk „Goldene Brücke“.
Die Wahrheit: Verbrechen gegen die Veganlichkeit
Der Krieg im Thinktank: Denken linke Kräfte über die Ukraine nach, geht es
hoch her. Ein Besuch beim Hans-Modrow-Institut in Görlitz.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.