# taz.de -- Annalena Baerbock in der Türkei: „Die Luft hat gebrannt, oder?“ | |
> Außenministerin Baerbock redet Klartext und beeindruckt in Ankara die | |
> türkische Opposition. Starke Worte allein werden aber bald nicht mehr | |
> reichen. | |
Bild: Außenministerin Annalena Baerbock zu Besuch in einem Gemeindezentrum fü… | |
Istanbul/Ankara taz | Erst am Ende der Reise, kurz vor der Fahrt zum | |
Flughafen, wird es zumindest einmal ganz friedlich. Der Tross der | |
Ministerin muss den Raum verlassen. Die Horde von Kameraleuten, die gerade | |
noch den Tisch in der Mitte des Raumes belagert hat, verschwindet. Nur ein | |
paar Mitarbeiter*innen und vier Abgeordnete aus dem Bundestag dürfen | |
bleiben und setzen sich auf die Bänke am Rand. Die Kinder, die gerade am | |
Basteln waren, haben so einen Zirkus wohl auch noch nie gesehen. Jetzt | |
tauen sie langsam auf. | |
Es ist Samstagnachmittag und Annalena Baerbock besichtigt zum Abschluss | |
ihres Türkei-Besuchs ein Integrationsprojekt im Osten Ankaras. In einem | |
Kellerraum setzt sich die Außenministerin für ein paar Minuten zu der | |
Gruppe von Kindern, die regelmäßig hier sind und mittlerweile besser | |
türkisch sprechen als arabisch. Aus dem Gespräch darf nicht zitiert werden, | |
das Ministerium hat um Vertraulichkeit gebeten, aber die Themen sind | |
unverfänglich und wir bekommen sicherlich keinen Ärger, wenn wir verraten: | |
Es geht um die klassischen Fragen, mit denen man Kinder beim Small Talk zum | |
Reden bekommt. Nicht darum, aus welcher Ecke von Syrien sie kommen, nicht | |
darum, was sie auf der Flucht erlebt haben und auch nicht darum, was wohl | |
als Nächstes auf sie zukommt. | |
Wo sollte man da auch anfangen und wo aufhören? Es geschieht ja im Moment | |
allerhand in der Weltpolitik, in der in irgendeiner Form alles mit allem | |
verbunden ist und sehr vieles mit der Türkei. Und diese Kinder stecken | |
gewissermaßen mittendrin: Das Integrationszentrum in Ankara wird durch die | |
EU und die Bundesrepublik finanziert. Die Zahlungen sind [1][Teil des | |
Flüchtlingsabkommens mit der Türkei], die sich im Gegenzug vor sechs Jahren | |
verpflichtet hat, Afghanen und Syrer nicht Richtung Westen weiterziehen zu | |
lassen. | |
Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan war das lange Zeit ein | |
guter Deal, aber mittlerweile kippt die Stimmung in der Gesellschaft. | |
Flüchtlinge sind auch in der Türkei nicht mehr gerne gesehen. Das ist einer | |
der Gründe, warum die türkische Regierung derzeit ihre nächste Invasion in | |
den Norden von Syrien vorbereitet. Sie kündigt offen an, die [2][Kurden aus | |
der Autonomieregion Rojava] zu vertreiben und mindestens eine Million | |
syrischer Flüchtlinge in das Gebiet zu verfrachten. | |
## Türkei in bester Verhandlungsposition | |
An anderen Grenzen sucht sie ebenfalls Stress: Seit Monaten erhebt sie | |
verstärkt Ansprüche auf griechische Inseln und umgebende Gewässer. Dass von | |
allen Nato-Staaten die Türkei im Moment die größte Nähe zu Russland pflegt, | |
ist ein dritter Konfliktpunkt, der auch den Baerbock-Besuch überschattet. | |
Die Türkei kann sich das alles erlauben. Im Schatten des Ukraine-Kriegs hat | |
sie ihr Inventar an Druckmitteln ausgebaut: [3][Das Flüchtlingsabkommen] | |
dient ihr weiterhin als Verhandlungsmasse. | |
Den [4][Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens] droht sie immer noch zu | |
blockieren. Und so skeptisch man aus westlichen Hauptstädten auch auf die | |
Nähe zu Moskau blickt: Dass die türkische Regierung als eine von wenigen | |
zwischen der Ukraine und Russland vermitteln kann, erkennt selbst | |
Außenministerin Annalena Baerbock an. Einen „großen Schritt“ nennt sie | |
[5][das Getreideabkommen], das mit türkischer Hilfe zustande kam und | |
Exporte aus ukrainischen Häfen ermöglichen soll. | |
Am Freitagabend sagt die Grünen-Politikerin das, kurz nach ihrer Ankunft in | |
der Türkei. Ihr Blick reicht währenddessen über den Bosporus, über den in | |
ein paar Tagen die ersten Getreidefrachter das Schwarze Meer verlassen | |
könnten. Das türkische Außenministerium hat hier in Istanbul eine | |
Außenstelle direkt am Wasser. Durch das Fenster gelangen Musikfetzen und | |
laue Luft in den Saal. Eigentlich ein schöner Sommerabend. | |
Genießen kann ihn die deutsche Außenministerin nicht. Eine Stunde hat sie | |
gerade im Raum nebenan mit ihrem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu | |
gesprochen. Jetzt läuft die gemeinsame Pressekonferenz. Ein kniffliger | |
Auftritt – nicht nur wegen der ohnehin schwierigen Gesamtlage, sondern auch | |
wegen der Erwartungen, die sie mit sich bringen. Den russischen Angriff auf | |
die Ukraine hat die Bundesregierung maximal deutlich verurteilt. Kann sie | |
dahinter zurückbleiben, wenn ein Nato-Partner ähnlich imperialistische | |
Ambitionen zeigt? | |
## Hohe Erwartungen an „wertegeleitete Außenpolitik“ | |
Vor wenigen Wochen erst musste sich Baerbock beim Treffen der | |
G20-Außenminister*innen anhören, dass der Westen mit zweierlei Maß messe. | |
Und im Inland, nicht zuletzt in der eigenen Partei, hat sie mit ihrer | |
Ankündigung einer „wertegeleiteten Außenpolitik“ Erwartungen geweckt, an | |
denen sie jetzt unentwegt gemessen wird. „Erdogan hat schon viel zu lange | |
machen können, was er will. Damit muss Schluss sein“, sagte [6][die | |
Grüne-Jugend-Chefin Sarah-Lee Heinrich vor Baerbocks Reise der taz]. Einen | |
Tag später warf die Welt, normalerweise nicht besorgt über Abweichungen vom | |
grünen Wahlprogramm, der Außenministerin vor, in der Türkei-Politik doch | |
nur den freundlichen Merkel-Kurs fortzusetzen. | |
Als am Freitag nach 55 Minuten die Pressekonferenz in Istanbul endet, hat | |
sich dieser Vorwurf erst mal erledigt. „Kann man sagen, dass die Luft | |
gebrannt hat?“, fragt eine Journalistin aus dem Tross der Ministerin in die | |
Runde. Reporter*innen gleichen nach solchen Anlässen oft ihre Eindrücke | |
mit den Kolleg*innen ab. In diesem Fall wäre die Rückfrage aber | |
ausnahmsweise gar nicht nötig gewesen, denn ja klar, die Luft hat ganz | |
offensichtlich gebrannt. | |
Dass es hitzig wird, deutet sich schon während Çavuşoğlus ersten Sätzen an. | |
Der türkische Außenminister klagt über die PKK in Europa, einen | |
Brandanschlag auf ein Auto des Generalkonsulats in Stuttgart und die | |
Blockade von Waffenexporten in die Türkei. Baerbock zückt ihren | |
Kugelschreiber. Sie macht erst eine Notiz auf ihren Sprechzettel, dann eine | |
zweite, irgendwann muss sie den Stift gar nicht mehr weglegen. Am Ende hat | |
sie eine ganze Latte von Themen zusammen, zu denen sie dem „lieben Mevlüt“ | |
widersprechen wird, als sie kurz darauf selbst an der Reihe ist. | |
Währenddessen schreibt dann wiederum der liebe Mevlüt eifrig mit, um nach | |
der nächsten Pressefrage nicht auf die Pressefrage zu antworten, sondern | |
seinerseits ausführlich der „Frau Baerbock“ zu widersprechen. Der | |
Simultan-Dolmetscher kommt nicht mehr mit. Çavuşoğlus reibt seine Hände in | |
Zitronenwasser, was man in der Türkei ganz gerne macht, wenn man eine | |
Erfrischung benötigt. | |
## Schlagabtausch in Istanbul | |
Am Ende wird ihm die deutsche Außenministerin unter anderem mitgeteilt | |
haben, dass das Völkerrecht keinen Einmarsch nach Nordsyrien erlaube, der | |
gefangene Menschenrechtler Osman Kavala in Freiheit gehöre und niemand | |
griechische Inseln antasten dürfe. Freundlicherweise wird ihr Çavuşoğlus | |
dafür bescheinigen, dass es durchaus einen Unterschied macht, dass jetzt | |
die Grünen in der Bundesregierung sitzen: Eine deutsche Außenministerin, | |
die auf die griechische Propaganda reinfällt, sagt er sinngemäß, hätte es | |
unter Merkel nicht gegeben (was zumindest insofern stimmt, als dass die | |
Große Koalition im Territorialstreit mit Griechenland einst EU-Sanktionen | |
gegen die Türkei ausbremste). | |
Einerseits ist es angesichts all der Konfliktherde natürlich | |
unbefriedigend, dass das Treffen so endet. Andererseits: Innenpolitisch | |
können sich beide nicht beschweren. Baerbock hat ihren Klartext-Ruf | |
geboostert, was nach all den pragmatischen Entscheidungen der letzten | |
Monate nicht schadet. Çavuşoğlu hat mal wieder den Krawall geliefert, nach | |
dem seine Partei verlangt. | |
Die AKP ist schließlich in der Krise. Sie bekommt die Inflation im Land, | |
aktuell bei wahnsinnigen 80 Prozent, nicht in den Griff. In Umfragen ist | |
sie abgesackt, bei den Wahlen im nächsten Jahr könnte sie tatsächlich die | |
Macht verlieren. Das dürfte der wichtigste Grund für die Zündeleien an den | |
Grenzen sein. Revisionistische Töne in Richtung Griechenland und | |
Militäraktionen gegen die Kurden, im Inland oder in Syrien, haben sich für | |
die Regierung schon bei vergangenen Wahlen ausgezahlt. | |
Heißt aber auch: Die Türkei könnte ernst machen, wird nicht viel auf die | |
Konsequenzen geben und zumindest bis zu den Wahlen im nächsten Sommer nicht | |
runterschalten. Und heißt außerdem: Mit dem Auftritt in Istanbul hat | |
Baerbock nur Zeit gewonnen. Sobald die türkische Regierung einen ihrer | |
Konflikte weiter eskaliert, reicht Klartext allein nicht mehr aus. Dann | |
werden Fragen nach Konsequenzen kommen. | |
## Starke Worte, deutliche Zeichen | |
Rüstungsexporte in die Türkei hat schon die Große Koalition nach der | |
letzten Syrien-Invasion stark heruntergefahren. Dass es angesichts der | |
aktuellen Lage dabei bleibt, lässt die Außenministerin durchblicken. Keinen | |
Stopp gibt es dagegen vorerst für ein U-Boot-Geschäft mit Ankara, trotz | |
aller Appelle aus Griechenland. Ein Deal der türkischen Marine mit | |
ThyssenKrupp wurde schon vor Jahren grundsätzlich genehmigt und ist | |
mittlerweile weit fortgeschritten. | |
Ob die Ampel anders als die Groko Sanktionen vorantreibt, falls die Türkei | |
weiterhin im Mittelmeer provoziert? Ob sie das Flüchtlingsabkommen neu | |
gestalten will, wie es die Grünen im Wahlkampf angekündigt hatten? Auf | |
Baerbocks Türkei-Reise ist davon nicht die Rede. Sie belässt es bei ihrem | |
Auftakt-Besuch bei starken Worten – und deutlichen Zeichen. | |
Ihr Vorgänger Heiko Maas (SPD) war schon mal für ein dreistündiges Gespräch | |
mit Çavuşoğlu eingeflogen und direkt danach zurück nach Berlin gereist. | |
Baerbock fliegt nach dem Abend am Bosporus weiter nach Ankara. Den ganzen | |
Tag über führt sie vertrauliche Gespräche mit [7][Vertreter*innen einer | |
anderen Türkei]. Sie besichtigt das Flüchtlingsprojekt mit den Kindern und, | |
hinter einem unscheinbaren Eingang in einer Geschäftsstraße, die | |
Beratungsstelle einer Stiftung, die sich gegen Femizide einsetzt. Zuvor | |
spricht sie am Vormittag mit Politiker*innen der Opposition: 30 | |
Minuten mit der sozialdemokratischen CHP, 30 Minuten mit der | |
nationalkonservativen İYİ (beide zugegebenermaßen auch keine Tauben) und | |
noch mal 30 Minuten mit der linken HDP. | |
Die Treffen finden in einem Fünf-Sterne-Hotel hinter verschlossenen Türen | |
statt. Das Auswärtige Amt sorgt aber dafür, dass sie trotzdem sichtbar | |
werden: Vor jedem Gespräch winkt Baerbocks Personal kurz die wartenden | |
Fotograf*innen in den Raum. Mithat Sancar, Chef der [8][womöglich bald | |
schon verbotenen HDP], sagt hinterher auf dem Hotelflur sogar noch ein paar | |
Worte. Er verleiht der Besucherin gewissermaßen ein Prädikat, für das | |
alleine sich die Reise fast schon gelohnt hat: Dass der türkische | |
Außenminister auf Pressekonferenzen Stunk mache, sei ja nichts Neues, sagt | |
er. Dass das Gegenüber dagegenhält, das habe er am Vortag aber „fast zum | |
ersten Mal“ erlebt. | |
30 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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