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# taz.de -- Polizei tötet Jugendlichen in Dortmund: Trauer und Unverständnis
> Nach dem Tod eines 16-Jährigen durch Polizeischüsse sind viele Fragen
> offen. Fachleute fordern mehr Sensibilität im Umgang mit psychisch
> Kranken.
Bild: Eine Bodycam könnte Aufschluss über den Tathergang geben
Berlin taz | „No justice, no peace“ steht in weißen Buchstaben auf dem
Asphalt. Daneben sind noch die Markierungen der Spurensicherung zu sehen:
Gelbe Punkte zeigen, wo die Hülsen der abgefeuerten Projektile gefunden
wurden. In der Dortmunder Nordstadt, wo [1][am Montagnachmittag ein
16-Jähriger von einem Polizisten mit einer Maschinenpistole getötet wurde],
mischen sich Wut und Trauer mit Unverständnis über den Tod des
Jugendlichen. Sowohl Anwohner:innen als auch Ermittler:innen stehen
vor vielen offenen Fragen. Über allen schwebt ein Gedanke: War der Tod des
16-Jährigen vermeidbar?
Am Dienstagabend zogen bis zu 300 Menschen durch das Viertel und forderten
eine lückenlose Aufklärung des Polizeieinsatzes. Spontan dazu aufgerufen
hatten mehrere antifaschistische Kleingruppen aus Dortmund. Für die
nächsten Tage und Wochen sind weitere Kundgebungen geplant.
Die Demoroute mied am Mittwoch aus Respekt vor den Bewohner:innen die
Jugendeinrichtung, auf dessen Gelände der Jugendliche aus dem Senegal
erschossen wurde. Laut Berichten von Anwohner:innen sollen Jugendliche,
die in derselben Einrichtung wohnen, den tödlichen Einsatz durch ihre
Fenster beobachtet haben.
Nachdem der zuständige Staatsanwalt Carsten Dombert am Dienstag von
mutmaßlich „suizidalen Gedanken“ des Getöteten gesprochen hatte, wurde nun
bekannt: Der 16-Jährige soll offenbar erst am Montagmorgen aus einer
psychiatrischen Einrichtung in die Wohngruppe gekommen sein. Wieso er trotz
seines labilen Zustands nicht dort bleiben konnte, ist noch unklar.
## Waren die Bodycams der Polizist:innen eingeschaltet?
Die Staatsanwaltschaft hofft, mit [2][Videos von den Bodycams der
Beamt:innen] mehr über den Tatablauf zu erfahren. Dafür müssten die
jedoch eingeschaltet gewesen sein. Das geschehe aber nicht automatisch,
sondern nur manuell durch die Beamt:innen selbst, erklärte ein
Pressesprecher der Dortmunder Polizei der taz.
Anhaltende Befragungen von Nachbar:innen, Polizist:innen und drei
Betreuer:innen der Wohngruppe sollen zudem klären, aus welcher Distanz
geschossen wurde. Die Fundorte der Hülsen befanden sich Fotos und Videos
zufolge zum Teil außerhalb des eingezäunten Innenhofs. Nachbar:innen
berichteten der taz, dass sowohl im Hof als auch außerhalb des
Kirchengeländes Polizist:innen im Einsatz waren.
In den sozialen Medien wurde im Nachgang des Einsatzes über die eingesetzte
Schusswaffe diskutiert. Das Mitführen der Maschinenpistole vom Typ MP5 sei
in Nordrhein-Westfalen und anderen Bundesländern ganz normal bei „besonders
gefährlichen Einsatzlagen“, sagte ein Sprecher der Dortmunder Polizei.
Aus der Politik mehren sich die Forderungen nach einer schnellen
Aufklärung. Lamya Kaddor, Sprecherin für Innenpolitik der Grünen im
Bundestag, zeigte sich gegenüber der taz „extrem erschüttert“ von dem Fall
und forderte Ermittlungen unter „Hochdruck“. Kaddor kritisierte außerdem,
dass die Polizeipräsidien Dortmund und Recklinghausen gerade gleichzeitig
gegeneinander ermitteln: Im Fall des getöteten 16-Jährigen aus Dortmund ist
die Polizei Recklinghausen zuständig – aus „Neutralitätsgründen“. Doch…
in Recklinghausen kam kürzlich ein Mann bei einem Polizeieinsatz ums Leben
– den Fall untersucht die Dortmunder Polizei. „Das ist wirklich ungünstig.
Ich fände es gut, wenn das eine andere Polizeistelle macht“, sagte Kaddor.
## Kritik an der Polizeiausbildung
Martina Renner, innenpolitische Sprecherin der Linken-Bundestagsfraktion,
bemängelte gegenüber der taz die Vorbereitung von Polizeibeamt:innen
auf den Umgang mit psychisch Erkrankten: „Unabhängig von möglicherweise
besonderen Umständen im Einzelfall fehlt es offenbar an
Ausbildungsinhalten, welche die Beamten auf das Zusammentreffen mit
Menschen in psychischen Ausnahmesituationen vorbereiten.“
Der [3][Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes] kritisiert seit Jahren, dass
die Fort- und Weiterbildungsangebote für Beamt:innen nicht ausreichen.
„Leider sehen wir immer wieder, dass Polizeibeamte bei Einsätzen mit
psychisch labilen Menschen nicht die nötige Distanz einhalten.“ Gerade bei
möglicher Suizidgefahr müsse erst das Gespräch gesucht werden. „Wenn das
nicht funktioniert, muss man erst recht vorsichtig sein“, sagte Feltes. Für
den Kriminologen sei deshalb nun eine der entscheidenden Fragen, wer den
Einsatz geleitet und die Erlaubnis gegeben hat, die Maschinenpistole
einzusetzen.
Armin Bohnert von der Berufsvereinigung „PolizeiGrün“ räumte im Gespräch
mit der taz ein, man könne bei der Vorbereitung auf solche
Ausnahmesitutationen nicht von einem „top Ausbildungsstand“ in Deutschland
sprechen. „Dafür fehlt es an Personal und Zeit.“ Bohnert sagte, es gebe bei
solch komplizierten Einsätzen kein „schulbuchmäßiges Verhalten“.
Spezialeinsatzkommanndos hingegen hätten im Vergleich zu
Streifenbeamt:innen die notwendige Ausrüstung und Erfahrung.
Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften an der Akademie der
Polizei in Hamburg, bewertet das ähnlich: „Spezialeinheiten verfügen über
Distanzstangen und Kettenhemden. So können sie eine Person mit Messer auf
Distanz halten und sind nicht so gefährdet, wenn sie das Messer wirft.“
Der Tod des 16-Jährigen in Dortmund ist bereits der vierte Fall binnen
weniger Tage, bei dem ein Mensch während oder nach einem Polizeieinsatz ums
Leben kam.
10 Aug 2022
## LINKS
[1] /Jugendlicher-stirbt-in-Dortmund/!5870440
[2] /Bodycams-versus-Smartphones/!5865891
[3] /Unabhaengiger-Polizeibeauftragter/!5768176
## AUTOREN
Aaron Wörz
## TAGS
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Dortmund
Tödliche Polizeischüsse
Psychische Erkrankungen
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