# taz.de -- Juristin über Hafenexplosion von Beirut: „Keine Gerechtigkeit im… | |
> Zwei Jahre nach der Hafenexplosion in Beirut gibt es noch immer keine | |
> Ermittlungsergebnisse. Die Anwältin Zena Wakim klagt nun in den USA. | |
Bild: Der Beiruter Hafen im August 2020 | |
taz: Frau Wakim, zwei Jahre sind seit der Explosion in Beirut vergangen. | |
Viele Libanes*innen fordern Gerechtigkeit. Was bedeutet das im | |
juristischen Sinne? | |
Zena Wakim: Sie wird darin bestehen, dass ein Gerichtsbeschluss die | |
Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. Es ist sehr schwierig, ohne | |
Antworten auf die eigenen Fragen zu trauern. Gerechtigkeit dient dem Land, | |
aber sie ermöglicht den auch die Trauerbewältigung der Einzelnen. | |
Wie weit ist der Stand der Aufklärung? | |
Es gibt [1][keine Ermittlungen, im Libanon tut sich nichts]. Die politische | |
Elite, die vom Richter vorgeladen oder angeklagt wurde, hat es geschafft, | |
die Ermittlungen auszusetzen und die Arbeit der Justiz zu sabotieren. Sie | |
haben über 25 Anträge auf Entlassung der Richter gestellt. Sie haben | |
Anträge auf die Entlassung der Berufungsrichter gestellt und Klagen gegen | |
den Staat wegen Fehlverhaltens der Richter eingereicht. Die Verfahren sind | |
ausgesetzt, in diesem Jahr hat bisher keine Untersuchung stattgefunden. | |
Wie könnte im Libanon Gerechtigkeit auf juristischer Ebene erzielt werden? | |
Kann sie überhaupt erreicht werden? | |
Ich denke, jeder hat sich jetzt damit abgefunden, dass es im Libanon | |
[2][keine Gerechtigkeit geben wird]. Alle Opfer haben eklatante politische | |
Einmischung, systembedingte Verfahrensmängel und den Maulkorb der Justiz | |
erlebt. Das ist der Grund, warum die Opfer begonnen haben, über | |
Alternativen nachzudenken. | |
Die Familien der Opfer der Explosion haben eine Klage im US-amerikanischen | |
Texas eingereicht, unterstützt von Ihrer Stiftung Accountability Now. Die | |
250-Millionen-Dollar-Klage richtet sich gegen ein US-Unternehmen. Was haben | |
die damit zu tun? | |
Die Verbindung zu Texas ergibt sich aus der Tatsache, dass der Angeklagte – | |
TGS, eine Firma für geophysikalische Dienstleistungen –, seinen Sitz in | |
Texas hat. Ihr gehört das britische Unternehmen Spectrum Geo, das den | |
Frachter „Rhosus“ gechartert hatte, mit dem das Ammoniumnitrat in den | |
Libanon kam. Dadurch ist die Gerichtsbarkeit in Texas gegeben. TGS hatte | |
einen dubiosen Vertrag mit dem Energieministerium des Libanon | |
abgeschlossen. Wir haben ihn eingesehen, er hält sich nicht an die in der | |
Branche geltenden internationalen Standards. Wir wissen nicht, wie viel im | |
Rahmen dieses Vertrags gezahlt wurde. Spectrum hatte die „Rhosus“ | |
gechartert, um seismische Maschinen aus dem Libanon zurück nach Jordanien | |
zu holen und zu transportieren. Spectrum hatte ein Schiff gechartert, mit | |
einer wechselhaften Wartungsgeschichte, einem sehr zwielichtigen | |
Eigentümer, das bereits das Dreifache seiner Kapazität geladen hatte. Es | |
hatte weder die Rampen an Bord, um die Maschinen zu entladen, noch hatte es | |
die Kapazität, diese Maschinen zu transportieren. Und vor allem: Es hatte | |
Sprengstoff an Bord. | |
Wie lautet die Anklage? | |
Anspruch auf verschuldensunabhängige Haftung, für den Verlust von | |
Menschenleben, sowie für Umwelt- und Sachschäden. | |
Aber was ist mit den libanesischen Politikern? Human Rights Watch zufolge | |
wussten Sicherheitsbehörden, Zollbeamt*innen, ehemalige Minister, der | |
ehemalige Regierungschef und der amtierende Präsident von der gefährlichen | |
Fracht. Gibt es Chancen, dass sie vor Gericht kommen? | |
Die Klage richtet sich nicht direkt gegen die libanesischen Politiker, aber | |
viele von ihnen sind eindeutig in die [3][Ereigniskette, die zur Explosion | |
führte], verwickelt. Das wollen wir durch den Prozess in den USA aufdecken. | |
Einige von ihnen haben den Vertrag mit TGS unterschrieben, manche davon | |
profitiert. Einige halfen beim Chartern der „Rhosus“. Wir erwarten, das | |
Korruptionsnetzwerk hinter der Explosion aufzudecken. Teil des Prozesses in | |
den USA wird sein, sie anhören und befragen zu lassen. Die USA haben etwas, | |
was kein anderes Land hat, nämlich den Entdeckungsprozess. Das ist ein sehr | |
mächtiges Instrument, um Beweise zu suchen und die andere Partei zur | |
Offenlegung von Informationen zu zwingen – wie die Kommunikation mit | |
Beamten oder Zahlungen. | |
Sind Sie zuversichtlich, dass es Gerechtigkeit geben wird? | |
Die derzeitige Untersuchung zielt auf über 100 Personen ab: vom | |
Transporteur des Ammoniumnitrats bis zu den Richtern, Sicherheitskräften, | |
Politikern sowie den Verkehrs-, Finanz- und Energieministern. Weil es so | |
viele sind, stehen die Chancen gut, dass sie zur Rechenschaft gezogen | |
werden. | |
4 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Nach-Hafen-Explosion-im-Libanon/!5845412 | |
[2] /Ein-Jahr-nach-der-Explosion-in-Beirut/!5788153 | |
[3] https://www.hrw.org/sites/default/files/media_2021/08/Annex%201.pdf | |
## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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