# taz.de -- Dokumentarfilmdebüt „Pornfluencer“: Er verteilt seine Gene | |
> Joscha Bongards Dokumentarfilm „Pornfluencer“ erzählt von einem jungen | |
> deutschen Paar, das von Amateurpornos lebt. Sie drehen jeden Tag ein | |
> Video. | |
Bild: Alles sauber bei dieser Pornoproduktion? Nico und Andreea, die Protagonis… | |
Andreea und Nico, ein aufgeräumt lächelndes deutsches Heteropaar Anfang | |
zwanzig, begrüßt das Filmteam vor ihrem großen, etwas schmucklosen Haus in | |
Zypern und lädt zur Besichtigung ein. Neben Andreeas Schminktisch ist ein | |
Video-Schnittplatz eingerichtet, an der Wand hängt Nicos großes | |
„Visions-Board“. Im Bücherregal stehen Wirtschaftsratgeber neben Jordan | |
Belforts „The Wolf of Wall Street“. | |
Die Jungunternehmer filmen ihren Sex für eine Amateurporno-Seite, Kategorie | |
„verified couple“, echtes Paar. Im ersten Monat haben sie 10.000 Euro | |
eingenommen, nach Zypern sind sie wegen der Steuererleichterungen, | |
mittlerweile haben sie ein eigenes Onlineangebot mit direktem Abo-System | |
programmiert. Sie drehen jeden Tag ein Tiktok-Video, das die Interessenten | |
zu Youtube führt, von dort zu Twitter, von dort auf die Hardcore-Seite. Die | |
erste Million ist in Reichweite. | |
## Wahre Gefühle | |
Reichtum heißt für sie Freiheit. Fern von ihren Freunden, entfremdet von | |
ihren Familien, lächeln sie in die Kamera, fallen sich unterstützend ins | |
Wort, machen sich Komplimente und geben sich High Five, wenn eine neue | |
Sexszene aufgezeichnet ist. Ihr Versprechen ans Publikum ist auch ein | |
ethisches: direkte Kommunikation, konsensualer Sex, wahre Gefühle, neue, | |
saubere Ökonomien statt [1][Ausbeutung, Fremdbestimmung, dirty Business]. | |
Der sexpositiv eingestellte junge Filmemacher Joscha Bongard hat dem Paar | |
auf Instagram geschrieben und will mehr über diesen Ansatz wissen. | |
Am Anfang steht eine Verständigung des Films mit seinem Publikum über den | |
normalisierten Konsum von Pornografie. Eine sanfte Stimme erinnert im | |
scheinbaren Schulterschluss daran, dass wir ja alle mittlerweile | |
Internetpornos teilen wie Songs oder Memes, die uns gefallen. | |
## Die Zuschauenden als User | |
Auch Bongards Debütfilm präsentiert sich als zirkulierendes Onlinevideo, | |
die Anfangscredits werden als Messages fingiert, die Schlusscredits als | |
Nutzungsbedingungen einer Webseite, den Film selber sehen wir wie in einem | |
Incognito-Fenster. Das kommt ein bisschen didaktisch daher, die | |
Zuschauenden sollen sich als User fühlen und die Bedingungen hinterfragen, | |
unter denen die von ihnen konsumierten Videos entstehen. | |
Eigentlich ist „Pornfluencer“ aber als Desktop-Recherche inszeniert, wir | |
sehen den Cursor und werden durchs Material geführt, manchmal springen wir | |
vor und zurück, nach Belieben werden auch zusätzliche Videos mit | |
Expert:innen angeklickt und auf Vollbild gestellt. Damit stellt Bongard | |
die Kontrolle über sein gefilmtes Material aus, geht auf Distanz zu seinen | |
Protagonist:innen. Und warum er das tut, ist verständlich, denn in den | |
Selbstdarstellungen des Paars wird sehr schnell eine problematische Dynamik | |
deutlich. Eine Triggerwarnung steht am Anfang von „Pornfluencer“. Es geht | |
um sexualisierte Gewalt. | |
## Ein natürliches Anrecht auf Frauen | |
Zu Nicos autodidaktischer Ausbildung gehören nicht nur Motivationsvideos, | |
sondern auch Ideen und Überzeugungen der „Pick-up“-Szene: Männer, die | |
anderen Männern Tipps fürs Aufreißen geben und ihnen das Gefühl vermitteln | |
wollen, ein natürliches Anrecht auf Frauen zu haben – auch auf die, die | |
sich widersetzen. Sex heißt für ihn auch: sein genetisches Material zu | |
verteilen. Wenn er das sagt, lächelt Andreea und stimmt ihm zu. | |
Spannungsmusik auf der Tonspur macht klar, wie die Filmemachenden das | |
finden. | |
Der auf vielen Ebenen interessante Einblick in eine neue Ökonomie, in eine | |
schräge kleine Welt, in der ein sympathisches Normalo-Paar noch gar nicht | |
zu wissen scheint, wie ihm geschieht, wird damit zum subtilen Horrortrip, | |
in dem ein reaktionäres Genderverständnis unter Jugendlichen sichtbar wird, | |
das in ihrer selbstgeschaffenen Blase keinen Widerspruch von außen erfährt. | |
## „Ich bin ein geiler Führer“ | |
Widerspruch erfahren Nico und Andreea auch im Film nicht. Bongard filmt | |
Andreea am Schneidetisch, in einer vertraulichen Atmosphäre, in der sie | |
zugibt, letztlich immer zu tun, was Nico ihr aufträgt. Bongard kommentiert | |
Szenen, in denen das schmerzhaft deutlich wird, aber letztlich auch nur am | |
eigenen Schneidetisch, durch Musik, Montage und seine zugeschalteten | |
Expert:innen. Wie sehr die Selbstdarstellungen der beiden auch ein Effekt | |
des anwesenden Dokumentarfilmteams sind, reflektiert er nicht. Nico und | |
Andreea werden dadurch zu Material, das anschließend eine Triggerwarnung | |
bekommt. | |
Die Fragen, die sich aus diesem Material ergeben, gehen über Nico und | |
Andreea und ihre kleine Welt hinaus. Und auch über die Frage nach einer | |
ethischen Varietät allgegenwärtiger Pornografie. Sie betreffen die | |
Aktualisierungen eines patriarchalischen Weltbildes, die auf neuen Kanälen | |
zirkulieren. | |
Wenn Andreea und Nico als getrennte Morgenrituale ihre „Affirmationen“ in | |
den Spiegel sprechen, damit eine Selbstsuggestion versuchen, die sie in | |
Motivationsvideos gelernt haben, lässt die Montage einen Direktvergleich | |
zu. Viele Sätze sind identisch. Aber an der Stelle, wo Nico sich weismacht: | |
„Ich bin ein geiler Führer“, sagt Andreea: „Ich bin eine gute Freundin.�… | |
18 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jan Künemund | |
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