# taz.de -- Großbritanniens Noch-Premier Johnson: Lahme Ente von Downing Street | |
> Boris Johnson nahm es mit Fakten nie so genau – lange mit Erfolg. Mit | |
> seinem Vermächtnis könnte Großbritannien noch lange zu kämpfen haben. | |
Bild: Die verwuschelten Haare gehören zu ihm: Großbritanniens Noch-Premiermin… | |
Er will vorerst weitermachen. Der britische Premierminister Boris Johnson | |
ist [1][zwar am Donnerstag zurückgetreten], aber gegangen ist er noch | |
nicht. Zunächst soll sich die Partei um einen Nachfolger kümmern. Doch das | |
kann dauern. Bis dahin soll das Vereinigte Königreich von einer „lame | |
duck“, einer lahmen Ente, regiert werden. | |
Manche Tories fürchten, dass Johnson in dieser Zeit weiteren Schaden | |
anrichten könnte. [2][Labour-Chef Keir Starmer hat angekündigt], einen | |
Misstrauensantrag zu stellen, falls Johnson nicht sofort geht. | |
Johnsons Rücktritt ist das vorläufige Karriereende eines großen | |
Illusionskünstlers. Er hat sein politisches Rüstzeug in der | |
Eton-Oxford-Kaderschmiede erhalten, die auch sein Vor-Vorgänger David | |
Cameron und viele seiner Weggefährten durchlaufen haben. Simon Kuper, | |
Journalist der Financial Times, studierte zur selben Zeit wie jene Herren | |
in Oxford und hat ein Buch darüber geschrieben: [3][„Chums“] – Kumpane. | |
Kuper war bereits viel in der Welt herumgekommen, bevor er nach Oxford | |
ging. Sein größter Kulturschock, schreibt er, war die Obsession der Briten | |
mit der Klasse und ihrem Rang in der Hierarchie. | |
Großbritannien hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich zu einem | |
Land entwickelt, in dem mehr Gleichheit als je zuvor herrschte. Doch dann | |
kam Margaret Thatcher an die Macht, und die Oberschicht witterte | |
Morgenluft. In Oxford manifestierte sich das im Debattierzirkel „Oxford | |
Union“ und im „Bullingdon Club“, einer Vereinigung von Sprösslingen der | |
Oberschicht, bei der allein die Uniform mehrere tausend Pfund kostete. | |
Der Stil der Debatten sei von Charme, Witz und Leichtigkeit geprägt gewesen | |
statt von Fakten und Zahlen, schreibt Kuper. „Letzteres galt als | |
langweilig.“ Man kam besser an, wenn man einen komödiantischen Auftritt | |
hinlegte. Deshalb seien viele später zunächst Zeitungskolumnisten geworden, | |
denn sie haben das „faktenfreie Getöse“ in Oxford gelernt, wo die Essays in | |
der Art von Zeitungskolumnen ohne viel Recherche geschrieben wurden, | |
behauptet Kuper. | |
## Lancierte Anekdoten | |
Auch Boris Johnson ging zur Presse. Er war nie ein analytischer oder | |
faktentreuer Journalist, er war immer ein Entertainer, ein | |
Geschichtenerzähler. Bei der Times kostete es ihn den Job, weil er Zitate | |
gefälscht hatte, beim Daily Telegraph arbeitete er als Brüsseler | |
Korrespondent und erfand absurde EU-Regeln, die er dann geißeln konnte. | |
Als Politiker hat er diesen Stil beibehalten, und damit war er erfolgreich | |
– obwohl ihn manche als Politclown abtaten. Johnson arbeitete mit | |
Selbstironie und Witz, mit sorgfältig verstrubbelten Haaren und einem Hemd, | |
das immer aus der Hose rutschte. Und er lancierte Anekdoten in eigener | |
Sache. So habe er sich für die Hochzeit mit der Kommilitonin Allegra | |
Mostyn-Owen einen Anzug leihen müssen und den Ehering binnen weniger | |
Stunden verloren. Die Ehe hielt nicht lange. | |
Vor seiner Ernennung zum Premier machten Fotos von seinem zugemüllten Auto | |
die Runde. Johnson erschien vielen als ein Mensch wie du und ich, dessen | |
elitäre Erziehung in den Hintergrund trat. | |
## Kühl berechnend | |
Tatsächlich aber ist er ein kühl berechnender Politiker. Nach anfänglichem | |
Zögern schwang er sich zum Wortführer der Kampagne für den Austritt aus der | |
EU auf, weil ihm das förderlich für seine Karriere erschien – zu Recht, wie | |
sich herausstellte. | |
Der Brexit war sein Meisterstück. Sein Versprechen, das Land wirtschaftlich | |
neu zu beleben und den abgehängten industriellen Gebieten im Norden | |
Englands durch Investitionen zu mehr Wohlstand zu verhelfen, zog auch in | |
bisher von Labour dominierten Wahlkreisen. Deshalb fuhr Johnson im Jahr | |
2019 einen so deutlichen Wahlsieg ein, wie ihn die Tories seit Margaret | |
Thatcher nicht erlebt hatten. | |
Am Ende musste Johnson nicht wegen Inkompetenz oder wegen der zahlreichen | |
Skandale gehen. Die hätte man ihm verziehen, wenn er sich dafür artig | |
entschuldigt hätte, was ja auch eine Weile funktioniert hat. Was ihm das | |
Genick brach, waren die Lügen. Die Wählerinnen und Wähler, die geduldig die | |
Anti-Corona-Maßnahmen ertragen hatten, während er Partys feierte, merkten, | |
dass sie für dumm verkauft werden sollten, und wandten sich von ihm ab. | |
Deshalb zogen die Abgeordneten die Reißleine. Sie mussten fürchten, ihre | |
Sitze bei den nächsten Wahlen zu verlieren. | |
Sein Rücktritt hat in der EU Erleichterung ausgelöst. Der frühere | |
Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier sagte: „Der Abgang von Boris | |
Johnson eröffnet ein neues Kapitel in den Beziehungen zum Vereinigten | |
Königreich. Möge es konstruktiver und respektvoller gegenüber den | |
Verpflichtungen sein, besonders was Frieden und Stabilität in Nordirland | |
betrifft.“ Ein EU-Diplomat, der ungenannt bleiben wollte, sagte der | |
US-amerikanischen Tageszeitung Politico wenig diplomatisch: „Jeder ist | |
voller Schadenfreude. Es war sehr unterhaltsam.“ | |
## Schadenfreude in Moskau | |
Schadenfreude herrscht auch in Russland. Putins Sprecher Dmitri Peskow | |
sagte: „Er mag uns nicht. Wir mögen ihn auch nicht.“ Der russische | |
Unternehmer Oleg Deripaska frohlockte, Johnsons Rücktritt sei das | |
„schmähliche Ende eines dummen Clowns“. Und die Sprecherin des | |
Außenministeriums Marija Sacharowa schrieb auf Telegram: „Die Moral der | |
Geschichte lautet: Versuche nicht, Russland zu zerstören. Du beißt dir die | |
Zähne aus und erstickst daran.“ | |
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hingegen bedauerte, einen | |
seiner wichtigsten Verbündeten verloren zu haben. Er dankte Johnson für die | |
Unterstützung und die Militärhilfe sowie seinen frühen Besuch in Kiew. „Er | |
war ein wahrer Freund der Ukraine“, sagte Selenski. „Ich bin sicher, dass | |
sich die Ukraine-Politik des Vereinigten Königreichs nicht ändern wird.“ | |
Wie geht es jetzt weiter? Zunächst müssen die Tory-Abgeordneten in einer | |
Reihe von Wahlen die Riege der Kandidaten, die von acht Abgeordneten | |
nominiert werden müssen, auf zwei reduzieren. Diese beiden müssen sich dann | |
dem Votum der Parteimitglieder stellen. Die ganze Prozedur dauert ungefähr | |
sechs Wochen. | |
Als Nachfolger drängt sich niemand wirklich auf. Die Generalstaatsanwältin | |
Suella Braverman und der führende Brexit-Verfechter Steve Baker haben zwar | |
nicht mal Johnsons Rücktritt abgewartet, bevor sie ihre Kandidatur | |
verkündeten. Beide haben jedoch nur Außenseiterchancen, ebenso wie die | |
Innenministerin Priti Patel, die bis zum Schluss an Johnsons Rockzipfel | |
hing. | |
Wegen ihres Lobbyismus für die Tabak- und Alkoholindustrie, ihrer früheren | |
Befürwortung der Todesstrafe, ihrer Ablehnung der gleichgeschlechtlichen | |
Ehe und ihrer Verschärfung des Ausländer- sowie Demonstrationsrechts ist | |
sie selbst vielen Tories zu rechts. | |
## Ein knapper Favorit bei den Buchmachern | |
Ex-Schatzkanzler Rishi Sunak, der lange als Kronprinz gehandelt wurde, | |
musste wegen Missachtung des Coronalockdowns eine Strafe zahlen und gilt | |
außerdem als erfindungsreich, wenn es um die Vermeidung von Steuerzahlungen | |
geht. Letzteres trifft auch auf Sajid Javid zu, der erst als Schatzkanzler | |
und zuletzt als Gesundheitsminister aus Johnsons Kabinett zurückgetreten | |
ist. Er hatte früher für die Deutsche Bank ein System erfunden, das | |
Bonuszahlungen für Bankiers in Steuerparadiese umleitet. Darüber hinaus ist | |
er mit Ausfällen gegen den „neofaschistischen“ linken Labour-Flügel und | |
gegen „pädophile Muslime“ aufgefallen. | |
Knapper Favorit bei den Buchmachern ist Ex-Verteidigungsminister Ben | |
Wallace, der bei Führungsstil und öffentlichem Auftreten das | |
Kontrastprogramm wäre. Aber er hat bisher nicht erklärt, ob er kandidieren | |
will. Knapp dahinter liegt in Meinungsumfragen Penny Mordaunt, die | |
Vorgängerin von Wallace als Verteidigungsministerin und zuletzt | |
Staatssekretärin für Handel. Ihr Vorteil ist, dass sie 2019 für Johnsons | |
Rivalen Jeremy Hunt gestimmt hatte. Der könnte erneut kandidieren – und | |
erneut verlieren. Als Brexit-Gegner sind seine Chancen gering. | |
Und schließlich rechnet sich auch Außenministerin Liz Truss Chancen aus. | |
Sie hielt bis zum bitteren Ende loyal zu Johnson – vermutlich eine Taktik, | |
um dessen verbliebene Anhänger unter den Abgeordneten bei der anstehenden | |
Wahl auf ihre Seite zu ziehen. Truss hatte in einer peinlichen Aktion | |
Margaret Thatcher imitiert, indem sie sich mit Kopftuch am Steuer eines | |
Panzers fotografieren ließ. | |
Wer auch immer auf Johnson folgen wird – zunächst muss er oder sie die | |
zerstrittene Partei wieder vereinen und sie vom Zynismus und Argwohn der | |
Johnson-Jahre befreien. Keine leichte Aufgabe. | |
8 Jul 2022 | |
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[1] /Ruecktritt-von-Boris-Johnson/!5866267 | |
[2] /Regierungskrise-in-Grossbritannien/!5866268 | |
[3] https://www.amazon.de/Chums-Tiny-Caste-Oxford-Tories/dp/1788167384 | |
## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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