Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- WM-Kandidatenturnier: Schach wie eine Fabel von Kafka
> Ian Nepomniaschtschi will wieder Schach-Weltmeister Magnus Carlsen
> herausfordern. Niemand gesteht sich seine Patzer so ein wie der Russe.
Bild: Ian Nepomniaschtschi im April 2021
Am heutigen Donnerstag startet das wichtigste Schachturnier des Jahres: der
Kandidatenkampf um das Recht, den amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen
herauszufordern. Acht Spieler treten in Madrid gegeneinander an, um sich
für dieses Duell im Frühjahr 2023 zu qualifizieren.
Besonders freue ich mich auf Richard Rapport, der oft ein sehr
angriffslustiges, riskantes und überraschendes Schach spielt. Der scheißt
sich nix, sagt man in Bayern. Wenn Rapport am Brett ist, ist eigentlich
immer was los.
Aber besonders interessiert mich der Auftritt von Ian Nepomniaschtschi.
Nepo war der Herausforderer Magnus Carlsens beim [1][letzten WM-Kampf
2021]. Die ersten fünf von insgesamt zwölf Partien hatten remis geendet,
und auch in der sechsten sah es lange danach aus, als würde es am Ende
wieder unentschieden stehen. Und mit lange meine ich sehr lange: die Partie
dauerte fast acht Stunden lang, 136 Züge. Es war nur eine kleine
Unachtsamkeit, die sich Nepo geleistet hatte, und auf die sich daraus
ergebende Schwachstelle walzte sich der unerbittliche, nichts verzeihende
Magnus Carlsen Zug für Zug ein, bis gar kein Entkommen mehr möglich war.
Die Partie schien wie eine Verfilmung einer Kafka-Fabel; es gab schlicht
kein Entkommen.
Danach war Nepo von der Rolle. In den folgenden Tagen ermöglichte er
Carlsen zweimal recht einfach zu durchschauende Manöver, die ihn jeweils
die Partie kosteten. Es war herzzerreißend. Kaum ein Sport ist so
unbarmherzig wie Schach. Monatelang hat man sich auf diese Situation
vorbereitet, stundenlang sitzt man am Tisch (oder, wie Nepo das tat, in
einer kleinen Kammer), zermartert sich das Hirn, um alle Möglichkeiten
auszuloten, und dann übersieht man ein Detail, eine winzige Kleinigkeit,
und alles ist futsch. Fassungslos starren die Scheinwerfer auf das Brett,
in den Kaffeetassen stellen sich die Rührlöffel auf, um einen genaueren
Blick zu haben, und die Blumen senken die Köpfchen vor lauter Bekümmertheit
und Scham.
Wahrlich beeindruckend aber war, wie Nepo mit diesen seinen
[2][Niederlagen] umgegangen ist. Bei den Pressekonferenzen beschönigte er
nichts. „Ich möchte mich entschuldigen für meine Partie heute – ich hatte
nicht das Niveau eines Großmeisters“, sagte er nach einer vermeidbaren
Niederlage. Und auf der Abschlusskonferenz konstatierte er: „Ich habe in
meiner Karriere schon viele dumme Partien verloren, aber noch nie so viele
in so kurzer Zeit.“ Dann zuckte er mit den Schultern: So ist das Leben.
Manchmal macht man dumme Sachen. Und dann ist das eben so.
Es gehört eine besondere Form von Größe dazu, sich diese Art Patzer sowohl
einzugestehen als auch zu verzeihen. Insbesondere im Schach, das, wie
Johannes Zukertort einst sagte, „der Kampf gegen den Fehler“ ist, also
gegen sich selbst. Ian Nepomniaschtschi hat Sportsgeist gegen sich selbst
bewiesen, ohne dabei auch nur im mindesten selbstherrlich zu sein. Das ist
schon beeindruckend.
Insbesondere, wenn man bedenkt, wie zehrend so ein Weltmeisterschaftskampf
ist. Er ist derart zehrend, dass [3][Magnus Carlsen] seit Monaten
öffentlich darüber nachdenkt, im nächsten Jahr nicht anzutreten; außer
Alireza Firouzja als Vertreter einer jungen, aufstrebenden Schachgeneration
gewinnt das Turnier. Oder der internationale Schachverband Fide schraubt
noch mal am Modus.
15 Jun 2022
## LINKS
[1] /Schach-WM-in-Dubai/!5818946
[2] /Heikles-Duell-bei-Schach-WM/!5813834
[3] /Niederlage-fuer-Schach-Genie/!5720536
## AUTOREN
Frédéric Valin
## TAGS
Kolumne Helden der Bewegung
Schach-WM
Schach
Kolumne Helden der Bewegung
Kolumne Frühsport
Kolumne Helden der Bewegung
Schach-WM
Kolumne Helden der Bewegung
Kolumne Helden der Bewegung
Kolumne Helden der Bewegung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Skandalsport Schach: Analyse und Analhumor
Beschiss am Schachbrett ist schwer nachzuweisen. Seit den Vorwürfen gegen
Hans Niemann wird darüber endlich einmal offen diskutiert.
Skandale erschüttern Schach-Welt: Züge aus Niemanns Hand
Weltmeister Magnus Carlsen weigert sich, gegen Hans Moke Niemann zu
spielen. Ausdruck eines Generationenkonflikts? Oder geht es um Betrug?
Vom Glück, Schach-Fan zu werden: Kristallblume und Disney
Es ist eine große Freude, sich einen neuen Sport zu erschließen. Beim
Schach steht gerade ein Generationenwechsel an.
Kandidaten für die Schach-WM: Eine Wunschweltmeisterschaft
Schach-Weltmeister Magnus Carlsen möchte seinen Titel nur gegen Alireza
Firouzja verteidigen. Er entwertet damit das Kandidatenturnier in Madrid.
Unattraktive Berliner Fußballklubs: Die Hoffnung heißt Tennis Borussia
Wenn der BFC Dynamo die schlimmste Version einer Vergangenheit wäre und
Hertha die triste Gegenwart, dann droht mit Union eine furchtbare Zukunft.
Fußballexperte der ARD: Abschalten mit dem Bastian
Zu DFB-Pokalabenden gehört ein Experte mit analytischem Verstand und
Hintergrundwissen. Manchmal steht aber nur Bastian Schweinsteiger da.
Schach in der Coronapandemie: Zeit zum Rochieren
Schach ist schlecht für das Ego, aber ideal für den derzeitigen
Ausnahmezustand. Die Dialektik aus Selbsttäuschung und Enttäuschung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.