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# taz.de -- Porträt eines Maultrommel-Spielers: Diese eine Liebe
> Als kleiner Junge lernte Gerd Conradt bei Hirten die Maultrommel kennen.
> Der Beginn einer Faszination, die ihn nie wieder losließ.
Bild: „Das macht süchtig, dieses ständige tiefe Ein- und Ausatmen“. Gerd …
Es ist ein meditativer, beschwörender Gesang, eine Schleife aus
Wiederholungen von Worten und Melodien: „Ich spiele Maultrommel in Berlin …
Berlin … Sonne und Sterne … Sterne … Sterne … Majo und Senf … und Sen…
und Senf … Anfang ohne Ende … Ende …“
So [1][tritt er uns bei Youtube entgegen]: Gerd Conradt, hinter ihm im
Regal tibetische Klangschalen, an seinem Hemd kleine Glöckchen an bunten
Stoffstreifen, die leise bimmeln, wenn er sich bewegt. Und eine Maultrommel
zwischen den Lippen. Neben ihm ein junger Musiker mit Kopfhörer am
blinkenden Mischpult, das den Technorhythmus der Berliner 90er vorgibt.
In [2][einem anderen Youtube-Film] steht Conradt in der Elbland
Philharmonie in Riesa, neben dem Dirigenten eines großen Orchesters mit
Bläsern, Geigern und Cellisten. Conradt mit seinem winzigen Instrument, das
in Steppen und Wüsten von Hirten gespielt wird, auf einer Bühne, auf der
die Musiker sonst hinter Notenblättern verschwinden.
Es freut ihn, wenn diese Leute, die die Maultrommel stets belächelt hatten,
jetzt applaudieren. Leute wie sein Bruder, der Chorsänger, oder seine
Schwester, die Cellospielerin. Gerd Conradt hatte mit ihnen spielen wollen,
aber immer schüttelten sie die Köpfe. Das sei doch keine Musik. Es war eine
Genugtuung, ihnen den Film aus der Philharmonie zu schicken. Jahrzehnte
nachdem er ihnen als kleiner Junge zum ersten Mal von der Maultrommel
vorgeschwärmt hatte.
## Mit den Hirten aufs Feld
Das war damals Ende der 1940er Jahre gewesen, in Großbreitenbach in
Thüringen, wohin die Familie aus dem Osten hatte flüchten müssen.
Großbreitenbach nach dem Krieg, ein Ort mit 3.000 Einwohnern und
Einwohnerinnen, in dem die Großmutter lebte, die im Wald Pilze sammelte,
jedes Kraut und Hausmittel kannte. Ein Ort, in dem jeder noch eine Kuh im
Stall hatte.
Und in dem Conradt jeden Morgen vom Läuten der Kuhglocken geweckt wurde,
wenn die Hirten die Tiere auf die Wiesen trieben, mit lauten Rufen und dem
Peitschenknallen dicker Lederknoten.
Lange hatte der Junge davon geträumt, einmal mit ihnen gehen zu dürfen,
doch seine Mutter kam aus besserem Hause. Eines Tages packte die Großmutter
aber Stullen und Himbeersaft für Conradt, und dann lief der Junge mit den
Hirten aus dem Dorf. „Und da, im Schatten eines Baumes, holte einer von
denen eine Maultrommel heraus und spielte“, erzählt er.
„Ich war sieben oder acht Jahre alt und wollte Förster werden oder Hirte.“
Der Gedanke, das Dorf zu verlassen, sei ihm nie gekommen. Die Welt war
schön, auch wenn es „immer nur Kartoffeln gab; mein Vater war studierter
Landwirt, Spezialist für Kartoffelanbau. Die ‚Linda‘ und die ‚Adretta‘
gehörten sozusagen zur Familie.“.
## Ein Film über Großbreitenbach
Gerd Conradt und seine Familie wären vielleicht für immer in
Großbreitenbach geblieben, aber der Vater eckte immer wieder an im
Sozialismus. Er war nicht damit einverstanden, dass man die komplette
Landwirtschaft verstaatlichte. 1955 schickten sie den Jungen nach
West-Berlin auf ein evangelisches Internat am Schlachtensee.
Die erste Maultrommel seines Lebens blieb in der DDR zurück. Als wenige
Jahre später eine Mauer mitten durch das Land gezogen wurde, sagte Mutter
Conradt zu ihrem Mann: „Paul, wir packen die Koffer!“
Als die Mauer wieder verschwunden war, fuhr Gerd Conradt nach
Großbreitenbach und Zella-Mehlis, wo noch immer „der Schlütter“ wohnte,
Maultrommelschmied in dritter Generation. Der baute Hirtenhörner, stand mit
seinen Instrumenten auf dem Bauernmarkt. Conradt wollte einen Film über ihn
drehen, fand aber keinen Produzenten.
Conradt hat viele Filme gedreht, auch einen über Großbreitenbach,
„BlaubeerWald“ heißt er. „Nach 1989 war ja plötzlich die ganze Welt in
Berlin versammelt. Auch die Japaner, und die wollten unbedingt einen Film
über die alte DDR.“ Es war ein Ereignis, als ein Filmteam im Dorf
auftauchte. „Die lokale Presse berichtete täglich über die Dreharbeiten.
Zur Erstausstrahlung bin ich sogar nach Tokio geflogen. Und als dann der
Film im MDR lief, saß das ganze Dorf vorm Fernseher.“
Nach dem Internat am Schlachtensee hatte Conradt die Lette-Schule mit der
Fotografieklasse besucht. „Das hat mir richtig gutgetan!“ Obwohl die Kamera
bei Dokumentarfilmen eine knifflige Sache ist. „Das ist eine ziemliche
Verantwortung; wenn du da einen Fehler machst, kannst du die Szene ja nicht
einfach noch mal drehen wie im Spielfilm.“ Aber er drehte, Film um Film,
beim ZDF, SFB, RBB, über die Spree, über Gretchen Dutschke oder Holger
Meins. Und natürlich einen über Maultrommeln.
## Er geriet in eine Krise
Und während Gerd Conradt so das Leben der anderen betrachtete, beschlich
ihn das Gefühl, das eigene zu verpassen. Er geriet in eine Krise und
flüchtete sich in die Musik, eine Welt ohne Worte und Bilder.
Er begann mit dem Obertonsingen und lernte 1986 einen Gesangslehrer kennen,
der Maultrommel spielte. Irgendwo in Italien nennen sie das Instrument den
„Gedankenfänger“, sagt Conradt. „Der fängt die abschweifenden Gedanken
wieder ein.“ Genau das brauchte er. So trat es wieder in sein Leben, das
kleine, unscheinbare Instrument.
„Und dann gab es ein Konzert mit Musikern aus Tuwa, mit Obertongesang und
Pferdekopfgeige. Ich glaube, es waren bestenfalls sechs Zuhörer gekommen.
Und ich war vollkommen begeistert. So was hatte ich im Leben noch nicht
gehört.“
Die Musiker wollten, dass Conradt einen Film über ihren Auftritt bei einem
Musikfestival im Süden Sibiriens dreht. „Ich dachte, wenn ich da wirklich
hinfahre, wer weiß, ob ich jemals wieder zurückkomme. Und dann sitzen wir
1996 in diesem Militärflugzeug auf hölzernen Bänken, zwischen Menschen und
Tieren und Pappkartons und fliegen von Moskau nach Kysyl, in die Hauptstadt
von Tuwa. Landen auf einer holprigen Wiese irgendwo am Ende der Welt, das
Empfangskomitee reicht Wodka in großen Gläsern und erklärt, dass wir jetzt
erst mal ordentlich essen und trinken, dann in die Sauna gehen und
anschließend im Jenissei baden, einem riesigen Fluss. Ein Glück, dass ich
vorher mein Testament gemacht hatte.“
## Aus Jakutien auf die Berlinale
[3][Der Film, „Dyngyldai“,] lief im folgenden Jahr auf der Berlinale, und
die Musiker kamen von überall, auch eine Gruppe von Maultrommelspielern aus
Jakutien. Dort, „ganz am Ende“, hinter der Mongolei, liegt die Heimat der
Maultrommel. „An jeder Schule wird da noch Maultrommel unterrichtet.“
Natürlich kommt auch Spiridon Schischigin, der berühmteste
Maultrommelspieler der Welt, von dort. „Damals schenkten sie mir eine
Khomus, eine jakutische Maultrommel.“
Wenig später erhielt Gerd Conradt ein Schreiben des Bildungsministeriums
der Region Jakutien. Man fragte an, ob er für einige Wochen als
Deutschlehrer nach Jakutsk kommen wolle. „Deutsch war ja die erste
Fremdsprache in der Sowjetunion. Wegen Marx und Engels.“ Also flog Conradt
nach Sibirien und unterrichtete seine Schüler mittels der Bild-Zeitung,
weil die „so schöne große Lettern hatte“. Und er verbrachte einige Tage m…
[4][Spiridon Schischigin], dem Gott der Maultrommel.
Der wollte ihn gleich zu seinem Manager machen. Aber Conradt ist kein
Manager. Wenn er etwas macht, dann aus Leidenschaft. So, wie sein Vater aus
Leidenschaft Kartoffeln anbaute.
## Der Berliner Maultrommelstammtisch
Die neue Leidenschaft ließ Gerd Conradt nicht mehr los. Die jakutische
Maultrommel wurde seine ständige Begleitung. Manchmal ist er mit einem
ganzen Koffer voll Maultrommeln unterwegs. 1999 gründete er den ersten
Berliner Maultrommelstammtisch. Er kann einfach nicht aufhören. „Das macht
süchtig, dieses ständige tiefe Ein- und Ausatmen: Nach zehn Minuten hast du
so viel Sauerstoff im Blut, da bist du high!“
Vor Kurzem ist er 80 Jahre alt geworden – der Botschafter der Maultrommel.
Er sitzt in einer „Osteria“ in Berlin-Kreuzberg, hat gegessen und getrunken
und zieht die Maultrommel aus der Jackentasche, ein silbernes Kunstwerk in
der Form einer Geige. Er klemmt es zwischen die Lippen und formt Töne. „Ich
kann nicht aufhören. Was soll ich sonst tun? Mich über Enkelkinder und
Krankheiten unterhalten?“
Im Juli wird er wieder mit ihr auf der Bühne stehen. Vom 27. bis 30. Juli
treffen sich Maultrommler aus aller Welt in der Berliner Ufa-Fabrik. „Das
ist eher so eine Art Geheimtreffen, alle vier Jahre, immer an einem anderen
Ort irgendwo auf der Welt, genau wie die Olympiade.“
Die weltbesten Maultrommelspieler werden dann aus den höchsten Bergen
herabsteigen und nach Berlin kommen. Künstler, zu denen Conradt voller
Bewunderung aufschaut. „Da, wo die sind, komme ich nie hin“, sagt er, setzt
die Maultrommel an und spielt, sodass es einen Moment lang still wird im
Raum.
14 Mar 2023
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=0n5oyl0mLcw
[2] https://www.youtube.com/watch?v=Boi7tnJuPzs
[3] https://www.youtube.com/watch?v=OT5c310OwUA
[4] https://www.kesselhaus.net/event/658398
## AUTOREN
Hans Korfmann
## TAGS
Porträt
Musikkultur
Weltmusik
Musik
Ennio Morricone
Mongolei
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