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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Groupies sind wieder da
> Massen, Massen, nichts als Massen – Menschenfleisch ist zurück an Orten,
> es ist kein Durchkommen mehr. Die Touristen, sie sind zurück.
Bild: Das weltweite Comeback eisessender und eisfotografierender Touristinnen
Herr Holten kratzt sich an den Augen. Verwundert besieht er sich seine
„Gruppe Paradiso“. Stand in der Reisebestätigung für die „Kleingruppenf…
nach Berlin-West“ noch eine „ungefähre, coronamaßnahmenbedingte
Teilnehmerzahl von rund 15 Personen“, so kommt er jetzt aus dem Zählen der
vorfreudig erregten Gesichter gar nicht mehr heraus. Bei 239 macht er
Schluss für heute, dann geht es hinein in das unterirdische „Biergewölbe“
unter dem Hackeschen Markt, „der ja gar nicht in Berlin-West, sondern in
der DDR liegt!“, wie ein scharf protestierender anderer Reiseteilnehmer
kritisch beim Betreten des Gewölbes im Gedränge anmerkt.
Und tatsächlich: Als DDR-Grenzschützerinnen verkleidete Bedienungen nehmen
mausgrau gewandet die körpernahen Ausweiskontrollen vor, die sich ob der
von oben nachdrängenden weiteren Reisegruppen als diffizil, ja körperlich
heikel gestalten. Herr Holten verliert seine Frau Holten im Kuddelmuddel,
und dann kotzt ihm vor Aufregung noch jemand aus einer artfremden
Reisegruppe auf seinen Talisman, der an seiner Bauchtausche baumelt, mit
der er vor Corona in Thailand war; Frau Holten hatte damals
Friesenteekochen mit Freundinnen auf Föhr gebucht.
Fakt ist: Die Massen sind zurück, es wird wieder ver- und gereist, was der
persönliche Überziehungskredit hergibt. Die Reisegruppenteilnehmer, kurz
die Groupies, jene begeistert stumpf orientierungslosen Massen, sie sind
weltweit wieder zu Wasser, in der Luft und im Lande unterwegs. Sie haben
Stullen im Gepäck, ungehörigen Gesprächsbedarf, fehlerbehaftetes Google
Maps – und vor allem anderen manifestieren sich diese Massen in
mannigfaltigen körperlichen Ausdünstungen.
## Alle Reisewege führen nach Rom und Berlin
Nur Russland und China haben derzeit reisetechnisch das selbstverschuldete
Nachsehen; alle Reisewege führen momentan nach Rom und Berlin, nach Sevilla
und Sydney, aber nicht nach Moskau und Peking. Bleiben wir beim Beispiel
Berlin. In der touristisch auch vor Corona schon recht annehmlich
ausgestatteten Kapitale „steppt nun wieder die Lucy“, frohlockt massiv
launig die Reisegruppenleiterin von Herrn Holten, die siebzehnsprachige
Doris d’Angelo aus Berlin-Spandau.
„Sie glauben gar nicht, wie touristisch ausgehungert meine Groupies hier
ankommen“, berichtet die blondierte Mittvierzigerin und schwenkt einen
Regenschirm in Form eines Regenbogens. „Gucken Sie, hier links im Gewölbe,
Frau Meisenbrinck aus Unna in Westfalen. Vor Corona war sie schon 23 Mal in
Berlin-West, jetzt …“
Doris d’Angelo greift beherzt nach Frau Meisenbrinck, die mit einem
Selfie-Stick ein Stück Mauer aus dem „Biergewölbe“ unter dem Hackeschen
Markt heraushacken will. Sie redet beruhigend auf die rotwangige,
korpulente Seniorin ein. „Frau Meisenbrinck, bitte lassen Sie noch ein
Stück Mauer für Herrn Holten übrig, der ist zum ersten Mal in Berlin.“
Dabei hat Herr Holten längst ohne seine Frau das Weite gesucht. Er ist
einfach kein Groupie.
27 May 2022
## AUTOREN
Harriet Wolff
## TAGS
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