# taz.de -- Die Wahrheit: Siamesische Zucchini-Zwillinge | |
> Eines der größten gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit wurde bislang | |
> noch keiner umfassenden Analyse unterzogen – bis jetzt … | |
Bild: Das waren noch Zeiten, als Jugendliche nur Party machten | |
Es gibt Phänomene, deren gesellschaftliche Sprengkraft lange Zeit verborgen | |
bleibt. Deren zerstörerisches Potenzial sich erst zeigt, wenn es schon zu | |
spät ist. Auf einen solchen unbemerkten Brandherd unserer hochgefährlichen | |
Zeit möchte ich aufmerksam machen: Es geht um die Doppel-Zucchini. | |
Sie werden Ihnen schon im Supermarkt begegnet sein, jene Zucchini, die | |
durch eine kleine Klebebanderole untrennbar zusammengehalten werden. Mit | |
etwas Glück werden Sie sich kurz gewundert und gefragt haben, ob Sie | |
„trotzdem“ zugreifen sollen, und sind Ihrer Wege gegangen. Ich jedoch lag | |
abends auf dem Sofa, während die Grübelei über das wundersame Angebot mich | |
langsam, aber sicher in die Verzweiflung zu treiben drohte. | |
Was soll das? Was wollen die da oben uns damit sagen? Muss ich mir das | |
wirklich bieten lassen? Habe ich im rauen Alltag nicht schon genug zu | |
erdulden? Ich kam zu dem Schluss, dass genau darin die Absicht liegen | |
musste: Willkür. Reine, bösartige Willkür. | |
Jahrhundertelang haben die Konzerne alles darangesetzt, Waren jederzeit in | |
jeder Quantität verfügbar zu machen. Mit Erfolg. Der Verbraucher ist ihnen | |
heute ergeben. Die Bosse stehen siegreich da und fangen an, uns zu | |
schikanieren. Aus schierer Langeweile. Weil sie es können. | |
Warum die Zucchini, werden Sie jetzt fragen. Warum keine Fenchel? Oder | |
Cherimoyas? Nun, es hätte genauso gut Mister Fenchel oder Miss Cherimoya | |
treffen können. Die unscheinbare Zucchini wird bei irgendeinem geheimen | |
Bonzentreffen auf einer abgelegenen Insel per Zufall ausgewählt worden | |
sein. „Warum nicht!“, werden die Säcke gelacht haben, Zigarrenstummel | |
zwischen die Goldzähne geklemmt, die Champagnergläser in den klobigen | |
Fingern. | |
Und schon bald werden weitere Produkte nach Belieben zusammengeschnürt: | |
Drei Butternut-Kürbisse, fünf Würstchen im Schlafrock, zwölf Stabmixer. | |
Vielleicht auch kombiniert: Drei Butternut-Kürbisse und neun Stabmixer. | |
Ohne Preisnachlass, versteht sich. | |
Es ist, als würde der freie Markt dem Verbraucher den alten Streich mit den | |
zusammengebundenen Schnürsenkeln spielen und amüsiert dabei zuschauen, was | |
wir alles über uns ergehen lassen. Mit dem Unterschied, dass es uns nicht | |
möglich ist, das Band der Zucchini zu entknoten. Und wir nur einen Magen | |
haben statt zwei. Wobei ein einzelnes Magenband auch sicher zwei Mägen | |
schnüren könnte. Was ich sagen will, ist klar: Entweder wir fangen jetzt | |
an, uns gegen die Doppel-Zucchini zur Wehr zu setzen oder sie wird nur der | |
Beginn eines produktbezogenen Psychoterrors ungeahnten Ausmaßes sein. | |
Ich habe heute damit begonnen, mich zu widersetzen, und zwei siamesische | |
Zucchini im Rewe per Messerschnitt von ihrer Knebel befreit. Der Kassierer | |
tat, als ob nichts wär, als ich sie demonstrativ einzeln aufs Band legte. | |
Ein kleiner Triumph, den er mir missgönnte. | |
2 Jun 2022 | |
## AUTOREN | |
Leo Riegel | |
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