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# taz.de -- Toter Geflüchteter in Chemnitz: Aufklärung verläuft schleppend
> In Chemnitz stirbt ein Geflüchteter nach einem Streit. Mutmaßlich
> beteiligte Männer sind stadtbekannt, ein rechtes Motiv ist nicht
> ausgeschlossen.
Bild: Gedenkort von Bilal Jaffals Freund*innen gegenüber der Unterkunft in Che…
Chemnitz taz | Zwei Männer tragen in einem blauen Sack die Leiche Bilal
Jaffals aus der Flüchtlingsunterkunft Annaberger Straße in Chemnitz. Radwan
Mozahem, der Mitbewohner des Toten, hatte die Leiche etwa 12 Stunden vorher
gefunden und die Polizei alarmiert.
Mozahem erinnert sich: Jaffal sei in der Nacht vom 18. auf den 19. Mai spät
nach Hause gekommen und habe Abschürfungen im Gesicht gehabt. Hinter seinem
Ohr sei ein tennisballgroßes Hämatom zu sehen gewesen. „Wir haben noch
etwas gegessen und eine letzte Zigarette geraucht“, so Mozahem. Außerdem
habe er Jaffal eine kalte Cola gebracht, um die Beule zu kühlen. Er selbst
habe dann in einem anderen Zimmer geschlafen.
Am nächsten Morgen habe er Jaffal wecken wollen, das Zimmer sei aber
abgeschlossen gewesen. Da die gesamte Unterkunft marode sei, habe er die
Tür öffnen können. „Ich habe gesehen, dass seine Beine rot waren – ich
dachte, er sei verletzt. Dann habe ich ihn umgedreht und realisiert, dass
er tot ist“, erzählt der 22-Jährige der taz.
Der Tod Jaffals wirft Fragen auf: Starb der junge Mann an den
Kopfverletzungen? Und wer hat sie ihm zugefügt? Eine Suche in Chemnitz
bringt schnell beunruhigende Ergebnisse.
## Keine Anzeichen für eine unnatürliche Todesursache?
Ein Cousin des Toten, Hussein Jaber, stieg in Herford in sein Auto, als er
vom Tod Jaffals erfuhr und fuhr mit weiteren Verwandten des Verstorbenen in
das 450 Kilometer entfernte Chemnitz. Vor Ort angekommen, habe sich erst
niemand um sie kümmern wollen, erinnert er sich. Er sei ins nahe
[1][Polizeirevier] geschickt worden, von dort wieder zurück zur Unterkunft.
Zwischenzeitlich habe die Polizei bei einem anderen Cousin telefonisch
bereits die Leiche als „freigegeben“ gemeldet, woraufhin Hussein Jaber vor
Ort bei der Kriminalpolizei nachhakte. Die habe ihm dann erklärt, die
Leiche sei doch nicht freigegeben. Es habe außerdem geheißen, dass es
augenscheinlich keine Anzeichen für eine unnatürliche Todesursache gebe.
Auf dem Totenschein findet sich allerdings ein Vermerk, dass eine Obduktion
empfohlen werde. Als Jaber dann wegen der Widersprüche erklärt habe, die
Familie werde anwaltlichen Beistand in Anspruch nehmen, sei der
Kripo-Beamte merklich nervös geworden, berichtet Jaber.
Die Polizei Chemnitz will am Telefon nicht auf Nachfragen der taz
antworten. Per E-Mail heißt es dann, derzeit werde weiter ermittelt. Das
Umfeld des Toten habe von einer Auseinandersetzung vor Bilal Jaffals Tod
berichtet, bei der der später Verstorbene eine Kopfverletzung erlitten
habe. Es gebe laut vorläufigem Obduktionsergebnisses aber „keine
Anhaltspunkte für eine todesursächliche Straftat“. Weiter heißt es in der
Mail, Jaffal sei an Erbrochenem erstickt.
Der Streit, den die Polizei erwähnt, spielte sich nur wenige Stunden vor
Jaffals Tod ab. Drei Augenzeug*innen schildern den Vorfall unabhängig
voneinander. Alle wollen anonym bleiben und geben an, am Mittwochabend des
18. Mai am Pavillon am Schlossteich in Chemnitz trinken gewesen zu sein.
Eine Gruppe junger Erwachsener habe sich zu ihnen gesetzt und ebenfalls
viel getrunken. Dann hätten sie Bilal Jaffal gesehen und diesen
angesprochen.
## „Jack Daniels“-Flasche auf den Hinterkopf
Bei dem dann ausgebrochenen Streit sei es um Jaffals Verhalten gegenüber
einem Mädchen gegangen. Als eigentlich alles im Gespräch geklärt gewesen
sei, habe einer der Begleiter von Jaffal einem der Männer unterstellt, Sex
mit Minderjährigen zu haben, schildert ein*e Augenzeug*in. Dieser sei dann
wütend geworden, habe dem Begleiter ins Gesicht geschlagen und eine erste
handfeste Auseinandersetzung sei ausgebrochen.
Nachdem sich die Situation beruhigt habe, sei die Gruppe an den Pavillon
zurückgekehrt. Jaffal sei wenig später mit zwei Flaschen in den Händen auf
sie zugelaufen. Einer der beiden jungen Männer, die davor mit Jaffal
gestritten hatten, sei sofort wieder auf ihn losgegangen und habe ihm
Schläge ins Gesicht verpasst. Der andere habe eine leere „Jack
Daniels“-Flasche gegriffen und Jaffal auf den Hinterkopf geschlagen. So
schildern es die Augenzeug*innen.
Unabhängig voneinander geben alle Augenzeug*innen an, dass es sich bei
den beiden mutmaßlichen Tätern um „Tymonn“ und Lukas W. handle. Alle
Augenzeug*innen kennen die beiden flüchtig. „Es ist doch geisteskrank,
dass die ganze Stadt weiß, wer es war, außer der Polizei“, sagt einer der
Augenzeug*innen.
Lucas W. bestätigt gegenüber der taz, dass er vor Ort war und dass es
Auseinandersetzung gab. Er will aber keine Whiskyflasche auf Jaffals Kopf
geschlagen haben. Er habe genug Zeugen, die seine Darstellung belegen
könnten, sagt er.
## „Sieg Heil“-Rufe
Über die Gruppe um Lucas W. lässt sich online herausfinden, dass sie sich
„Die Atzen“ nennen und sich in ihrem Leben viel um Alkohol dreht. Auch
Drogen scheinen eine wichtige Rolle zu spielen. Auf Instagram sind Fotos
der Gruppe mit großen Tüten voller Cannabis zu finden.
Auch sonst dokumentieren die „Atzen130“ ihren Lifestyle auf der
Social-Media-Plattform. In einem Video ist zu sehen, wie erst getrunken
wird und dann mit einer Pistolenattrappe so getan wird, als ob einer
erschossen werde. Anschließend rufen die jungen Männer „Sieg“, Tymonn, der
auch am Streit mit Bilal Jaffal beteiligt gewesen sein soll, antwortet mit
„Heil“. An einem Samstagabend, neun Tage nach Jaffals Tod, zieht die Gruppe
durch die Stadt und geht in Clubs feiern.
Laut den Augenzeug*innen handelt es sich bei den „Atzen“ nicht um
[2][Neonazis]. Ein Blick auf die Follower*innen der jungen Männer auf
Instagram verrät aber, dass sie zumindest Neonazis kennen. Ein
Gruppenmitglied folgt außerdem der rechtsextremen Instagram-Seite
„Patriotismus ist kein Verbrechen“. Zwei sollen an einem Angriff auf linke
Aktivist*innen beteiligt gewesen sein. Welche Rolle Rassismus als
Tatmotiv spielen könnte, bleibt zunächst unklar.
Am Montagmittag stellen Jaffals Mitbewohner Radwan Mozahem und weitere
Freund*innen Blumen, Kerzen und ein Bild des jungen Mannes vor der
Geflüchtetenunterkunft auf. Drinnen hatte es ihnen die Heimleitung aus
Sicherheitsgründen untersagt. Jaffals Leichnam ist mittlerweile von der
Familie im Libanon beigesetzt worden. „Wir haben der Familie versprochen,
dass wir für die Aufklärung der Tat kämpfen werden“, so Cousin Hussein
Jaber. Am kommenden Freitag wollen Angehörige und Freund*innen von Bilal
Jaffal ein Gedenken in der Chemnitzer Innenstadt abhalten.
Auch verschiedene linke Gruppen haben dazu aufgerufen, am Freitag um 18 Uhr
zum Roten Turm in der Chemnitzer Innenstadt zu kommen. Einige von Jaffals
Mitbewohner:innen wollen außerdem auf die Zustände in der Unterkunft
in der Annaberger Straße aufmerksam machen, in der Jaffal leben musste.
Toiletten und Bäder seien zum Teil unbenutzbar, erzählen mehrere Bewohner.
Insgesamt sei die Einrichtung wie in einem Gefängnis. Manche von ihnen
müssen trotz Jobs und Familie weiter in der Unterkunft leben. Das sei vor
allem eine psychische Belastung.
30 May 2022
## LINKS
[1] /Rassismus-bei-der-Polizei-Chemnitz/!5826081
[2] /Haftstrafen-gegen-rechte-Terrorgruppe/!5670678
## AUTOREN
Michael Trammer
## TAGS
Mordverdacht
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Chemnitz
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Chemnitz
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