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# taz.de -- Keine Sicherheit bei der Geburt: Wenn die Geburtsklinik schließt
> In Schleswig-Holstein verschwinden die Kreißsäle. Die Entwicklung ist in
> ganz Deutschland dramatisch. Mütter und der Hebammenverband schlagen
> Alarm.
Bild: Hunderte Kreißsaaltüren haben sich in den letzten Jahren dauerhaft gesc…
Für Jackline Hänchen war es ein Schock: Eine Woche vor dem errechneten
Entbindungstermin ihres Kindes wurde der Kreißsaal, in dem die 29-Jährige
gebären wollte, überraschend geschlossen. Als ihre Wehen einsetzten, konnte
ihr Mann sie also nicht wie eigentlich geplant zur geburtshilflichen
Abteilung des DRK-Krankenhauses Mölln-Ratzeburg fahren. Stattdessen fuhr er
sie in das nächstgelegene Krankenhaus, die Uniklinik Lübeck. Die ist
mindestens 45 Minuten Fahrtzeit entfernt – ohne Berufsverkehr, ohne
schlechtes Wetter und mit Glück bei der Ampelphase.
Wie Hänchen geht es vielen Gebärenden in ganz Deutschland. Innerhalb von
zwei Jahrzehnten halbierte sich die Zahl der Kliniken mit Geburtshilfe
beinahe: [1][1991 waren Geburten noch in 1.186 Kliniken in Deutschland
möglich, 2018 nur noch in 655]. Dabei stiegen die Geburtenraten von 2010
bis 2020 deutlich. Wurden im Jahr 2010 rund 678.000 Kinder in Deutschland
geboren, waren es 2020 schon rund 773.000.
Besonders betroffen von den Schließungen ist unter anderem
Schleswig-Holstein. Hier sind in den vergangenen zehn Jahren ein Viertel
aller Kreißsäle geschlossen worden. Von den mehr als 25 Geburtsstationen,
die es zur Jahrtausendwende im Land gab, sind nur noch 18 übrig. Weitere
Schließungen drohen, etwa in Eckernförde. Auch für die Kleinstadt Preetz
wurde zuletzt darüber diskutiert.
Die Schließungen haben aber nicht nur Auswirkungen auf Geburten in
Kliniken. Jede einzelne Schließung erschwert auch die Situation für
Hausgeburten und Geburtshäuser, weil die Fahrzeiten für Notfälle länger
werden.
## Nicht mehr rechtzeitig in der Klinik
Als Hänchen mit Wehen in der Uniklinik eintrifft, wird sie untersucht und
danach wieder nach Hause geschickt. „Ich saß dann wieder 45 Minuten im Auto
mit Wehen“, sagt die 29-Jährige. Als sie am Folgetag endlich in der Klinik
bleiben darf, sind die drei Kreißsäle belegt, die zuständigen Hebammen und
Ärzt*innen überfordert. Nur zusammen mit ihrem Mann verbringt Hänchen die
Zeit bis zu den Presswehen im Wehenraum. Da die Geburt nicht betreut wird,
werden auch die Herztöne des Säuglings im Bauch nicht kontrolliert. „Mein
Mann hat mir erst im Nachhinein erzählt, wie viel Sorge er um unsere Lütte
hatte“, sagt sie.
Die Hebamme Dorothee Ramminger berichtet zudem von drei Frauen aus ihrer
Vorsorge, die allein im vergangenen halben Jahr ihr Kind zu Hause bekamen –
anstatt wie geplant im Krankenhaus. Sie waren von den Kliniken in der
Wehenphase abgewiesen worden. Am 1. April etwa, sagt Ramminger, habe eine
werdende Mutter unter Wehen in der Flensburger Klinik angerufen. Trotz
eines Wehenabstands von nur noch zehn Minuten und einem Anfahrtsweg von 27
Kilometern hatte sie gesagt bekommen, sie solle noch zu Hause bleiben.
Kurze Zeit später war ihr Kind da.
„Für jemanden, der darauf nicht vorbereitet ist und das nicht möchte, ist
das eine sehr grenzwertige Erfahrung“, so Ramminger. Seit 27 Jahren ist die
51-jährige Hebamme. „Was früher vereinzelt vorkam – Mütter, die es nicht
rechtzeitig in die Klinik geschafft haben –, hat sich in den letzten Jahren
verdichtet.“
Je häufiger diese Fälle auftreten, desto größer das Risiko, dass etwas
passiert. Das sieht auch Anke Bertram so, die Landesvorsitzende des
schleswig-holsteinischen Hebammenverbandes. „Das Problem ist nur, dass es
dafür keine Statistiken gibt“, sagt sie. Das Risiko, das sich aus den
verlängerten Anfahrtszeiten ergibt, werde nirgends festgehalten. „Würde man
das mit einberechnen, würde das sofort das Argument entkräften, ein paar
wenige zentralisierte, dafür hochmoderne Kliniken seien sicherer als kleine
Kreißsäle.“
Katharina Desery, Sprecherin des bundesweiten Vereins Mother Hood, wird
deutlich: „Wir haben in der Geburtshilfe in Schleswig-Holstein ein
Sicherheitsproblem.“ Der Verein ist viel in Schleswig-Holstein aktiv,
unterstützt etwa die [2][Hebammen in Eckernförde] und das dortige
Bürgerbegehren gegen die Schließung des Kreißsaals.
„Die großen Kliniken, die jetzt die Geburten der geschlossenen Kreißsäle
auffangen müssen, kommunizieren vielleicht, das sei kein Problem. Aber
damit argumentieren sie auf dem Rücken der Eltern und der dort arbeitenden
Hebammen“, so Desery. „Jede zusätzliche Geburt pro Tag, kann eine zu viel
sein.“
Das Landesgesundheitsministerium Schleswig-Holstein wiegelt die Missstände
auf taz-Anfrage ab. Auch nach den jüngsten Schließungen sei die Versorgung
von Schwangeren in Schleswig-Holstein „weiterhin sichergestellt“, heißt es.
„Nach den Rückmeldungen der umliegenden Kliniken aus den Gebieten
geschlossener Geburtshilfestationen verfügen diese über ausreichende
Kapazitäten, um werdende Mütter aus diesen Regionen aufzunehmen.“
## Ein Strukturproblem
Die strukturellen Gründe hinter den Schließungen kleiner Kreißsäle sind im
Finanzierungskonstrukt für Krankenhäuser begründet, das seit 2003 in
Deutschland gilt: das System der sogenannten diagnosebezogenen
Fallpauschalen (DRG). Dabei geht es um das Geld, das ein Krankenhaus für
ein*e behandelte Patient*in nach einer festgelegten Größe bekommt. In
diesem Fall: für eine werdende Mutter. Da Diagnosen und Nebendiagnosen
Kosten zugewiesen werden, gilt: umso komplizierter der Fall, desto höher
die Vergütung.
Eine natürliche, komplikationsarme Geburt bringt den Krankenhäusern weniger
ein. Die müssen allerdings ihre Betriebskosten erwirtschaften. So werden
[3][die Fallzahlen, die in Kreißsälen benötigt werden, um die
Betriebskosten zu erwirtschaften, immer höher].
Zudem sind die Kosten etwa für Räumlichkeiten und Personal in der
Geburtshilfe deutlich höher als in anderen Fachbereichen. Denn um Notfälle
adäquat zu behandeln, braucht es vor Ort ein*e Gynäkolog*in, ein*e
Anästhesist*in, Krankenschwestern und Hebammen. Hinzu kommt die
Ausstattung. Diese sogenannten Vorhaltekosten sind enorm und werden vom
DRG-System nicht abgebildet. Der Fachkräftemangel und die stark gestiegenen
Haftpflichtprämien für die Geburtshilfe verschärfen das Problem ihrerseits.
Bundesweit wurden seit Einführung des DRG-Systems und der daraus
resultierenden Unterfinanzierung der Kreißsäle über einhundert
Geburtsstationen geschlossen. Besonders kleinere Kreißsäle wie die in
Schleswig-Holstein können schlicht nicht ausreichend wirtschaften.
Eines der Argumente für die Schließung dieser kleinen aufgrund des
DRG-Systems unrentabler Kreißsäle: Sie seien weniger sicher. Sinke die Zahl
der jährlichen Geburten weit unter 500 – wie zum Beispiel im Fall
Mölln-Ratzeburg, wo Jackline Hänchen ihr Kind zur Welt bringen wollte, –
fehle den behandelnden Ärzt*innen und Hebammen die nötige Praxis. Andreas
Schmid, der Geschäftsführer der geschlossenen Geburtsstation
Mölln-Ratzeburg, schreibt [4][in einer Pressemitteilung der Klinik], dass
das wiederum im äußersten Fall zu einer steigenden Rate von Komplikationen
führen könne.
Für Anke Bertram vom schleswig-holsteinischen Hebammenverband ist dieses
Argument Augenwischerei. „Hebammen sind top ausgebildete Fachkräfte. Bei
Geburten kommen wir nicht so schnell aus der Übung“, sagt sie. Stattdessen
böten nur kleine Kreißsäle bestenfalls die im Koalitionsvertrag der
Ampelregierung angepeilte 1-1-Betreuung während wesentlicher Phasen der
Geburt. [5][Diese Betreuung bietet größtmögliche Sicherheit für Mutter und
Kind]. Sie senkt dabei signifikant den Schmerzmittelbedarf sowie die Rate
der geburtshilflichen Interventionen.
Im Koalitionsvertrag heißt es zudem, man wolle das nationale
Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ und den Ausbau
hebammengeleiteter Kreißsäle stärken. Auf Anfrage jedoch sieht sich das
Bundesgesundheitsministerium nicht in der Pflicht. „Die Sicherstellung der
bedarfsgerechten stationären Versorgung der Bevölkerung obliegt den
Ländern.“ Wie genau das Nationale Gesundheitsziel umgesetzt werden könne,
werde „noch geprüft“.
Für Jackline Hänchen ging die Geburt zum Glück gut aus: Ihre Tochter kam
gesund zur Welt.
3 May 2022
## LINKS
[1] https://www.unsere-hebammen.de/aktionen/kreisssaalschliessungen/
[2] /Zentralisierung-von-Geburtsstationen/!5831073
[3] https://www.aerzteblatt.de/archiv/160812/Das-deutsche-DRG-System-Die-pausch…
[4] https://www.drk-krankenhaus.de/ueber-uns/aktuelles/presse-berichte/bericht-…
[5] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23963739/
## AUTOREN
Stella Kennedy
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