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# taz.de -- Analyse von Putins Narrativ: Misstraut den Erzählungen!
> Putin und Kapitän Ahab: Das Vertauschen von Geschichte und Geschichten
> ist ein Merkmal autokratischer Propaganda. Eine literarische Analyse.
Bild: Illustration zu „Moby Dick“ von John Huston, der den Roman 1956 verfi…
Zur unheilvollen Verbindung von Geschichte und Geschichten liefert der
Apparat Putin ein einschlägiges Exempel. Nicht umsonst wird im Zeichen des
Überfalls auf die Ukraine immer wieder die Rede von einem „historischen
Narrativ“ des russischen Autokraten bemüht, um die Gründe und Abgründe
nachzuzeichnen, deren Effekte dem Regime in Moskau vor allem als eines
dienen: als Quelle der Legitimation für ein grausames Verbrechen.
Die vielgestaltige Rede vom Narrativ ist dabei formelhaft wie symptomatisch
zugleich. Denn heute haben nicht nur Kriegsverbrecher eines, sondern auch
Menschen, Unternehmen, Fußballspiele oder sogar – wie uns ein
Nobelpreisträger der Ökonomie (Robert R. Shiller) mit seiner Idee der
narrative economics erläuterte – Märkte und ihre Blasen. Dabei sind
Narrative Erzählungen, und [1][glauben wir Aristoteles], so haben sie einen
Anfang, eine Mitte und ein Ende.
Das heißt: Sie ordnen die Dinge und Ereignisse in der Zeit und geben ihnen
darin einen Sinn. Und indem sie das tun, bringen sie das Erzählte in eine
Ordnung und erzeugen die Vorstellung von einer Wirklichkeit, die in dieser
Sekunde den Menschen der Ukraine buchstäblich mörderisch entgegenschlägt.
## Der einzig mögliche Weg
Dass diese Wirklichkeit – anders als Hegel es einst erträumte – ganz und
gar nicht vernünftig ist, zeigt sie selbst an. Nichts an Putins Krieg ist
vernünftig, und doch besteht seine Wirklichkeit und ist eine, die das Leben
von Millionen von Ukrainern verheert und verwüstet. Zugleich ist diese
Wirklichkeit auch die Fortsetzung einer Erzählung, nämlich der von einem
einzig möglichen, richtigen und vor allem sinnvollen Weg.
Hätten wir diese Erzählung ernst genommen als das, was sie ist, so hätten
wir schon früher verstanden, dass sie – als ideologische Praxis – die
Wirklichkeit mit einschließt. Denn sie hat die Botschaft, dass in ihr die
Dinge, Ereignisse und Menschen nicht nur sinnvoll geordnet werden, sondern
dass die entstehende Ordnung für sich in Anspruch nimmt, die einzig
wirkliche zu sein. Geschichte, so erzählen die Geschichten, lässt sich
nicht ändern, ist wie Natur.
Diese Vertauschung von Geschichte und Geschichten als die von Wirklichkeit
und Fiktion ist eine, die jeden verbrecherischen Apparat antreibt. Aber sie
ist auch, in ihrer ideologischen Variante, eine gründlich moderne
Erscheinung. Denn schon längst vor Putin gibt sich die Moderne ein
Programm, dass vielleicht nirgends so deutlich entzifferbar vor uns liegt
wie in der großen Allegorie der Erzählungen und ihrer Schiffbrüche, in
Herman Melvilles „Moby Dick“.
## Symbolische Vorwegnahme
Der Roman ist die symbolische Vorwegnahme dessen, was wir heute in der
Ukraine erleben: Er liefert die Geschichte von Wahnsinn, von Gewalt und am
Ende eben auch von einem ungeheuren Schiffbruch. An Deck erscheint ein von
seiner Erzählung selbst getriebener Kapitän Ahab, der seine Mannschaft,
zusammengepfercht wie die russischen Soldaten, antreibt, um einem Gespenst,
einer Fantasie und vor allem der Erzählung von einem ungeheuer großen und
ungeheuer weißen Wal, Moby Dick, nachzujagen.
Der Wal ist dabei so weiß, dass er keine Eigenschaften hat. Aber er
zirkuliert selbst als die Erzählung von einem großen Kampf, in der der
Mannschaft eine Belohnung versprochen wird, die ihr am Ende doch
vorenthalten wird. Denn das Projekt verschluckt die Menschen ganz so wie
Kapitän Ahab seine Mannschaft auf der „Pequod“.
Er verspricht ihr zwar einen kleinen oder – die Kleptokraten des russischen
Apparats werden ihn fordern – großen (wie es bei Melville heißt)
„Schätzteil“. Vor den Verschluckten nämlich baumelt diffus die Vision von
einem Anteil an der Beute, die so ungeheuer ist, dass sie ihr selbst zur
Beute werden.
Dabei liefert die Erzählung immer ein Versprechen, dessen Einlösung sich
nie ereignet, denn die Erzählung will immer weiter, nicht aufhören, nicht
innehalten. [2][Das hat schon Ende der 1930er Jahre Walter Benjamin] im
Angesicht der mörderischen Logik jener faschistischen Erzählung auf den
Punkt gebracht. Er sah, wie sie im Kampf um die Wirklichkeit an Boden
gewann, und bemerkte präzise: „Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die
Katastrophe.“
## Menschen werden hineingezerrt
Eine Erzählung, das sehen wir bei Putin wie bei Kapitän Ahab, ist also kein
harmloses Ding. In sie werden die Menschen hineingezerrt – zum einen die
Mannschaft, aber zum anderen auch wir. „Nennt mich Ismael“, beginnt der
Roman, so als wollte er sagen: „Macht mit bei der Erzählung! Macht euch
schuldig!“
Die Erzählung versucht die Menschen zu beugen und versucht sie in sich
hineinzuzwingen, ganz so wie Putins Krieg es tut mit den Menschen in der
Ukraine. Sie tut ihnen Gewalt an, zerstört ihre Leben und spuckt sie am
Ende aus wie Schiffbrüchige, die – wenn sie Glück haben – an Land gespült
werden.
Doch nicht alle haben dieses Glück. Denn kannte Melvilles Allegorie im
Schiffbruch noch die Utopie des Aufhörens der Erzählung, so ist uns diese
heute, angesichts ihres nuklearen Elements, unwägbar geworden. Also
arrangieren wir uns erst einmal, machen irgendwie weiter und fragen uns,
wie sie zu stoppen ist. Dabei ist nur eines sicher: Ihr selbst eine
Erzählung entgegenzuhalten wird nicht ausreichen, weil sie das Unheilvolle
doch nur wiederholt. „Moby Dick“ endet mit dem verstörenden Bild der Vöge…
die „kreischend über dem noch gähnenden Abgrund“ fliegen. Wollen wir dies…
Abgrund entkommen, so läge ein Anfang in der Formel: Misstraut den
Erzählungen!
21 Mar 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Ansgar Mohnkern
## TAGS
Wladimir Putin
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Propaganda
Literaturwissenschaft
taz.gazete
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Sachbuch
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