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# taz.de -- Flucht mit dem Berlin-Warschau-Express: Der Zug der Frauen
> Von Kiew über Warschau nach Berlin fliehen Tausende aus der Ukraine.
> Deutsche und polnische Freiwillige helfen den Flüchtenden gemeinsam.
Bild: Zischenstopp in Frankfurt/Oder: Zug Warschau-Berlin am 16. März 2022
Sind Sie jemals mit dem Berlin-Warschau-Express gefahren? Es ist eine der
kürzesten und angenehmsten Reisen, die man von Berlin ins Ausland machen
kann. In sechs Stunden können Sie vom Zentrum Berlins bis ins Zentrum
Warschaus reisen.
Wir fahren seit vielen Jahren mit diesem Zug, seit unsere Beziehung zu
Berlin vor über 15 Jahren begann. Normalerweise reisen wir königlich – in
einem bequemen, fast leeren Zug, in dem man ein Buch lesen oder in einen
schönen Speisewagen gehen kann, wenn man Hunger bekommt.
Doch seit dem 24. Februar dieses Jahres ist dieser angenehme Zug, der zwei
Hauptstädte miteinander verbindet, eine [1][echte Lebensader]. Die Bahnhöfe
an der polnischen und deutschen Seite – Warszawa Centralna und Berlin
Hauptbahnhof – sehen heute ganz ähnlich aus: überall Menschenmassen mit
Kindern.
Auf den ersten Blick scheint es fast so wie auf einem Bahnhof in einem
Ferienort, wo Eltern ihren Kindern Süßigkeiten und Malbücher schenken,
während sie auf ihren Zug warten. Erst nach einer Weile fällt dem
Beobachter auf, dass die Süßigkeiten von Freiwilligen verteilt werden und
wie müde die Gesichter der Mütter sind.
Die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine bleiben in Polen. Aber auf den Zug
nach Berlin wartet immer noch eine kaum zu zählende Menschenmenge auf dem
Bahnsteig. Die meisten sind Frauen in den Zwanzigern oder Dreißigern,
manche mit einem Kind, manche mit mehreren. Nur wenige ältere Frauen,
„Babuschkas“, wie man auf Russisch sagt, gibt es hier. Die Männer in dieser
Menge sind hauptsächlich kleine Jungen.
Freiwillige in gelben Westen sprechen uns auf dem Bahnsteig an: „Brauchen
Sie Hilfe?“ – „Danke, wir sind Polen – wir können auch den Fahrgästen
helfen.“ Dann sind wir schon im Zug. Es sind nicht nur alle Plätze besetzt,
selbst die Gänge der Waggons sind völlig überfüllt. Niemand kontrolliert
die Tickets. Niemand erinnert sich an die Covid-19-Pandemie.
Ein paar Stunden in diesem unglaublichen Gedränge können sich in eine
menschliche Hölle verwandeln. Wir überlassen unsere Plätze einer Frau mit
drei Kindern, darunter ein kleines Baby. Die beiden Frauen kümmern sich
abwechselnd um das Baby, um sich gegenseitig eine Pause zu gönnen. Sie
versuchen, die Kinder anzulächeln, aber als sie endlich eingeschlafen sind,
ist es, als würden die Masken von ihren Gesichtern fallen und man sieht
ihre die Ferne fixierenden Augen und traurig verzogene Mundwinkel.
Als wir an unserem Zielort, dem Berliner Hauptbahnhof, ankamen, wurde jeder
Fahrgast von deutschen Feuerwehrleuten und Polizisten aus dem Zug geholt
und unterstützt. Wir gingen eine Weile zusammen mit den Geflüchteten und
beobachteten einige Frauen, die ihre Kinder trugen – sie gingen, als ob sie
den größten Schatz in den Händen hielten.
[2][Polen] und Deutsche sind zwei Flüchtlingsvölker. Im Jahr 1945 wanderten
unsere beiden Völker aus, nachdem beschlossen worden war, beide Länder auf
der Landkarte nach Westen zu verschieben. Die unbeschreibliche Tragödie,
die sich tagtäglich an der polnischen Ostgrenze abspielt, erinnert in ihrem
Ausmaß an diese dramatische Zeit.
Vielleicht hilft uns die Empathie, die in gemeinsamen Erfahrungen wurzelt,
jetzt bei der Zusammenarbeit. Wer weiß – vielleicht ist es eine
Gelegenheit, den Prozess der [3][gegenseitigen Versöhnung] zwischen Polen
und Deutschen, der vor Kurzem durch die politischen Umstände aufgegeben
wurde, neu zu beleben, um diesen Frauen in der Not des Lebens gemeinsam zu
helfen.
26 Mar 2022
## LINKS
[1] /-Nachrichten-zum-Ukrainekrieg-/!5843918
[2] /Konflikt-zwischen-Russland-und-Ukraine/!5830831
[3] /-Nachrichten-zum-Ukrainekrieg-/!5842893
## AUTOREN
Jaroslaw Kuisz
Karolina Wigura
## TAGS
Ukraine
Polen
Kolumne Fernsicht
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Ungarn
Hamburg
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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