| # taz.de -- Grüne Spitzenkandidatin in Niedersachsen: „Das schüchtert mich … | |
| > Julia Willie Hamburg (35) will die Grünen in Niedersachsen in den | |
| > Wahlkampf führen – auch wenn die Weltlage die Aufbruchstimmung ausbremst. | |
| Bild: Wollen versuchen, die Sozis zum Jagen zu tragen: Julia Willie Hamburg und… | |
| Frau Hamburg, warum wollen Sie nicht Ministerpräsidentin werden? Gibt es | |
| bei Ihnen einen Baerbock-Effekt? | |
| Julia Hamburg: Eigentlich haben wir uns schlicht die Umfragen angeschaut | |
| und gesehen, dass wir zwar sehr zugelegt haben, aber noch ein ganzes Stück | |
| von der SPD entfernt sind. Da haben wir uns ganz nüchtern und realistisch | |
| gesagt, dass wir dieses Mal keine*n Kandidat*in für die | |
| Ministerpräsidentschaft aufstellen müssen. Das hat wenig mit Annalena | |
| Baerbock und viel mit der Situation in Niedersachsen zu tun. Die Grünen in | |
| Schleswig-Holstein haben sich anders entschieden. | |
| Trotzdem muss sich diese Wahlkampferfahrung aus Ihrer Perspektive ja ganz | |
| anders angefühlt haben. Wie haben Sie das erlebt? | |
| Es ist definitiv so, dass man da gesehen hat, wie man mit Frauen, vor allem | |
| auch jüngeren Frauen, in der Politik umgeht. Gerade wenn sie nach | |
| Verantwortung streben. Das hat mich nicht überrascht, aber auch nicht | |
| unberührt gelassen. Also [1][die Wucht, mit der da jeder Fehler bewertet | |
| wurde] und die Art und Weise, wie man ihr Äußeres, ihr Geschlecht und ihre | |
| Kompetenz immer zusammen diskutiert hat, das fand ich schon negativ | |
| beeindruckend. Aber das schüchtert mich nicht ein. | |
| Was hat Sie denn motiviert, in die Politik zu gehen? | |
| Für mich war ein Schlüsselmoment, als [2][Gerhard Schröder als Kanzler 2005 | |
| die Vertrauensfrage] gestellt hat. Das war der Punkt, wo ich gesagt habe: | |
| Ich gehe jetzt in eine Partei und engagiere mich. Weil ich einfach nicht | |
| wollte, dass dieser gesellschaftliche Aufbruch, dieses rot-grüne Projekt | |
| einfach so zu Ende geht. Ich wollte für progressive Mehrheiten kämpfen. Ich | |
| hatte dann auch relativ schnell kleine Erfolgsmomente – wenn es einem | |
| gelingt, auf einem Parteitag oder später auch im Landtag Veränderungen | |
| durchzuboxen, das ist schon schön. | |
| Ihr Lebenslauf sieht [3][erst einmal nach glattem Durchmarsch aus:] | |
| Sprecherin der Grünen Jugend, Landeschefin und Landtagsabgeordnete mit 27 | |
| Jahren – zack, zack, zack. Aber dann gab es eine fiese Vollbremsung: Sie | |
| litten nach der Geburt Ihres zweiten Kindes an einer lebensbedrohlichen | |
| Herzkrankheit. Was hat das verändert? | |
| Das war auf jeden Fall ein sehr harter Einschnitt. Ich bin seither viel | |
| demütiger und gewichte Dinge ganz anders. Früher habe ich mich sehr schnell | |
| über Dinge aufgeregt. Heute weiß ich, dass es das oft nicht wert ist. Und | |
| dass man nicht alles planen kann. | |
| Sie sind damit relativ offen umgegangen. War das von vornherein so klar | |
| oder haben Sie lange mit sich gerungen? | |
| Als Person der Öffentlichkeit hat man keine große Wahl. Ich wurde krank und | |
| drei Tage später stand es groß in allen Zeitungen. Damit muss man umgehen. | |
| Ich habe das aber auch gemacht, weil die Krankheit – Peripartale | |
| Kardiomyopathie (PPCM) – relativ unbekannt ist. Auch meine Ärzte haben die | |
| Beschwerden anfangs nicht so ernst genommen. | |
| Wie sehen Sie die Entwicklung Ihrer Partei? Vom rot-grünen Projekt in die | |
| Opposition und zurück? | |
| Wir haben sehr heftige Richtungsentscheidungen in der Partei gehabt, gerade | |
| nach dieser ersten rot-grünen Phase auf Bundesebene. Ich habe das sehr | |
| intensiv miterlebt, [4][die ganzen Flügelkämpfe.] Das war eine sehr | |
| fordernde Zeit, manchmal brutal, aber auch sehr produktiv. Ich glaube, dass | |
| wir jetzt in einer Phase von großer Geschlossenheit und Stärke sind und | |
| damit im Vorteil gegenüber Parteien, die jetzt ihrerseits durch so einen | |
| Findungsprozess durch müssen – wie etwa die CDU. | |
| Befürchten Sie nicht, dass so etwas wieder aufbricht, wenn es jetzt eine | |
| weltpolitische Lage gibt, die so viele grüne Gewissheiten – etwa in der | |
| Energie- und Friedenspolitik – wieder in Frage stellt? | |
| Erst einmal sind wir natürlich alle extrem erschüttert. Das ist eine sehr | |
| belastende Situation, und auch eine, für die wir alle keine Blaupause | |
| haben. Das könnte vielleicht zu einer Zerreißprobe werden. Mein Eindruck | |
| ist aber eher, dass wir die jetzt wichtigen Themen teilweise vorher schon | |
| erkannt und benannt haben. Schauen Sie sich an, wie Annalena Baerbock im | |
| Wahlkampf deutlich gemacht hat, welche Energiepolitik und welche | |
| Außenpolitik wir eigentlich brauchen. Robert Habeck arbeitet an der | |
| Beschleunigung der Energiewende, die uns ja nicht nur von Putin, sondern | |
| auch von anderen Autokraten unabhängiger machen soll. Ich würde mir | |
| wünschen, dass wir in Deutschland jetzt die Kraft haben, auf | |
| zukunftsweisende Lösungen zu setzen und nicht jeden energiepolitischen | |
| Irrweg noch einmal von vorne diskutieren. | |
| Für den Landtagswahlkampf haben Sie mit dem Slogan „Bock auf besser“ voll | |
| auf Aufbruchsstimmung gesetzt. Jetzt taumeln wir gerade von der | |
| Pandemiemüdigkeit in die Kriegsangst. Wie soll das noch verfangen? | |
| Wir haben das natürlich vor einem ganz anderen Hintergrund angelegt, weil | |
| wir gemerkt haben, dass CDU und SPD hier eine sehr bräsige | |
| Politikverwaltung betreiben und sich konsequent weigern, die Zukunftsfragen | |
| anzupacken. Es gibt schon eine große Unzufriedenheit, wenn man im Lande mal | |
| ein bisschen an der Oberfläche kratzt. Natürlich sind wir mit dem Krieg in | |
| der Ukraine in einer anderen Situation. Trotzdem müssen wir Veränderungen | |
| vorantreiben, weil nur diese Veränderungen Sicherheit schaffen und uns | |
| resilient machen. | |
| Vor dem Krieg klaffte die Bereitschaft zur Veränderung ja aber auch schon | |
| auseinander: Auf der einen Seite junge Klimaaktivisten, die langsam die | |
| Geduld verlieren, auf der anderen Seite Leute, denen alles zu viel ist und | |
| die Angst bekommen, wenn man Sternchen in Wörter macht. Wie wollen Sie das | |
| zusammenhalten? | |
| Wir sind ja seit eh und je eine Bündnis-Partei. Das heißt, diesen Spagat | |
| auszuhalten, unterschiedliche Interessen miteinander aushandeln – das liegt | |
| praktisch in unserer Natur. Das ist eine unserer ganz großen Stärken. | |
| Natürlich ist es für die junge Generation jetzt super wichtig, Druck zu | |
| machen. Sie haben ja Recht, wenn sie sagen, dass wir für das 1,5 Grad-Ziel | |
| nicht mehr genug Zeit haben – und es geht um ihre Zukunft. Unsere Aufgabe | |
| ist es, diese zu sichern. Deshalb müssen wir den Druck aushalten und im | |
| Gespräch bleiben, auch wenn es Enttäuschungen gibt. Wir wollen ein | |
| Investitionsjahrzehnt in einer Größenordnung auf den Weg bringen, wie es | |
| Niedersachsen lange nicht gesehen hat. | |
| Der andere Gegensatz, mit dem Grüne in Niedersachsen immer zu kämpfen | |
| haben, ist das Stadt-Land-Gefälle. Welche Strategien haben Sie da? | |
| Wir haben in den letzten Jahren mit unseren Initiativen im Landtag sehr, | |
| sehr deutlich gemacht, dass wir auch und gerade eine Partei der ländlichen | |
| Räume sind. Interessanterweise gucken die Grünen in anderen Bundesländern | |
| interessiert nach Niedersachsen, weil wir im letzten Jahr hier auf dem Land | |
| überproportional gewachsen sind. Das hat etwas damit zu tun, dass wir auch | |
| genau da auf den Lückenschluss setzen. Niedersachsen muss als Flächenland | |
| endlich investieren – in den Mobilitätswandel, die Energiewende, die | |
| Digitalisierung. Mit meinem Kollegen Christian Meyer haben wir auch einen | |
| Spitzenkandidaten, der selbst sehr ländlich lebt und genau das verkörpert. | |
| Ist das Ihre Arbeitsteilung? Der ehemalige Landwirtschaftsminister kümmert | |
| sich um die Dörfer und die Bauern, Sie ums urbane Bildungsbürgertum? | |
| Na ja, man muss halt gucken, wo man sich gut ergänzt. Ich komme aus | |
| Hannover und befasse mich seit Jahren mit Sozial-, Bildungs- und | |
| Innenpolitik. Christian war Landwirtschaftsminister, kommt aus der | |
| Umweltbewegung, kämpft seit Jahrzehnten für Naturschutz und Artenvielfalt | |
| und hat da eine sehr starke Expertise. | |
| Gilt das auch für Temperament und Ansprache? Christian Meyer gilt als | |
| notorischer Schnellsprecher mit Hang zur Polemik. Sind Sie dafür die Stimme | |
| des Ausgleichs? | |
| (lacht) Ja, vielleicht bringt er da etwas mit, was ich nicht so habe. Wobei | |
| wir beide schon durchaus schlagkräftige Persönlichkeiten sind – jeder auf | |
| seine Art. Also wir können beide mal auf den Tisch hauen, aber auch | |
| Einigungen mit anderen politischen Kräften erzielen. | |
| Und der Plan ist, sich darauf zu konzentrieren, die Sozialdemokraten zum | |
| Jagen zu tragen? | |
| Nein, natürlich ist unser Anspruch, erst einmal selbst möglichst stark zu | |
| werden, damit wir auf Augenhöhe verhandeln und grüne Inhalte durchsetzen | |
| können. Wir führen einen eigenständigen Wahlkampf. Dabei treibt uns auch | |
| das Thema Familien, Kinder und Jugendliche sehr um. Wir haben in den | |
| letzten zwei Jahren gesehen, wie oft Politik die aus dem Blick verloren hat | |
| – genauso wie den sozialen Ausgleich. Wir setzen darauf, dass wir als Grüne | |
| die besseren Antworten haben und die richtigen Prioritäten setzen. | |
| 17 Mar 2022 | |
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