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# taz.de -- Neues Album von Französin Fishbach: Im Wald schlafen
> Fishbach modelte und schauspielerte. Nun endlich kommt ihr neues Album
> „Avec les yeux“. Es ist so eigenwillig wie herausfordernd geraten.
Bild: Flora Fischbach verzichtet als Künstlerin auf ihren Vornamen und ein c i…
Eisig kalt und bedrückend schwül klingt Fishbachs neuer Popsound,
altmodisch und modern zugleich, exaltiert und überladen, facettenreicher
als noch vor fünf Jahren, als ihr Debütalbum in Frankreich erschien und
ihre Songs die junge Künstlerin über Nacht zum Star machten.
Retrofuturistisch inszeniert sich Fishbach heute auf ihrem neuen Album
„Avec les yeux“ als leicht mürrisch dreinblickende Hohepriesterin,
Stierkämpferin und Fantasy-Kriegerin, gekleidet in aufwändige [1][Haute
Couture].
Die Spaziergänge mit ihrem Hund durch die nebelverhangenen Wälder ihrer
Heimat, den Ardennen, die sie auf Instagram immer wieder in kurzen Filmen
dokumentiert, scheinen Spuren hinterlassen zu haben. Im Auftaktsong „Dans
un feu rire“ singt eine zivilisationsmüde Fishbach: „Ich werde im Wald
schlafen gehen / Ich werde nur meine Stimme haben / Ohne Worte / Ich bin
ein Tier“.
Im Video zur ersten regulären Single, „Masque d’or“, dann plötzlich eine
ganz andere Fishbach: tanzend, als Zwanziger-Jahre-Vamp in Body,
Netzstrumpfhose, auf Highheels, flankiert von zwei Tänzer:innen und
einem Disco-Beat. Höchstwahrscheinlich ist es ein Liebeslied: „Oh mein
kleines Strohfeuer / Du leckst schnell / Metall und Granit / Du machst mich
zu Zungen“.
## Kratzige Stimme, irrer Blick
„Junge Musikerin aus den Ardennen, solo, Musik vom Band, Gitarrensoli!
[2][Postpunk] und New Wave. Unglaubliche, reif klingende, kratzig-tiefe
Stimme, irrer Blick!“ – so lauteten meine Notizen, als ich Flora Fischbach,
die als Künstlerin auf ihren Vornamen und ein c im Nachnamen verzichtet, im
Dezember 2015 zum ersten Mal auf einer improvisierten Bühne im Hinterzimmer
einer Kneipe im französischen Rennes sah.
In meiner damaligen Funktion als Co-Kurator des Berliner Festivals
„Pop-Kultur“ hatte ich mich auf den Weg in die Bretagne gemacht, zum
Festival Transmusicales. Die interessantesten Konzerte sollten bei dessen
Ableger Bars en Trans stattfinden, Auftritte von kurzer Dauer in im
Gassengewirr der Altstadt von Rennes versteckt liegenden Kaschemmen.
Von Fishbach gab es bis zu diesem Zeitpunkt gerade mal eine vier Stücke
umfassende, selbstbetitelte EP, veröffentlicht auf einem der
interessantesten Pariser Labels, Entreprise. Von ihrem ersten Projekt, dem
Elektro-Duo Most Agadn’t, das sie mit 16 gründete, erfuhr ich erst später.
Fishbachs Musik war keine Neuerfindung, aber wahnsinnig gut gemacht – von
einer Sängerin vorgetragen, deren Stimmgewalt und Bühnenpräsenz
außergewöhnlich waren. Zuschauer:innen verglichen sie mit Catherine
Ringer von [3][Les Rita Mitsouko], ich musste an Desireless’ Hit „Voyage,
Voyage“ denken, die erste [4][französische Popmusik], die ich als Teenager
wahrgenommen hatte.
## Bald tanzen alle
Wir luden Fishbach zur zweiten Ausgabe von „Pop-Kultur“ im August 2016 in
das Berliner SchwuZ ein und gaben ihr die kleinste aller Bühnen,
schließlich hatte in Deutschland noch niemand von ihr auch nur einen Ton
gehört. Der Raum füllte sich zögerlich, aber je länger sie spielte, desto
voller wurde es. Das Publikum tanzte und jubelte, alle blieben, es wurde
immer enger und stickiger.
Ihre fulminante Soloshow beendete sie, nachdem sie sich mit todernster
Miene für ihr schlechtes Englisch und das nicht vorhandene Deutsch
entschuldigt hatte, mit den Worten: „Thank you for come, thank you for
stay. Ciao!“ Später unterhielt ich mich mit ihr. Ja, sie sei sehr zufrieden
mit ihrem Livedebüt in Berlin, aber die Verköstigung hinter der Bühne, die
hätte doch sehr zu wünschen übrig gelassen: „I’m a French girl. I want g…
cheese. And red wine. Next time!“
Im Dezember 2016 reiste ich zum zweiten Mal nach Rennes. Das Festival
Transmusicales hatte bei Fishbach ein Auftragswerk bestellt, das sie an
fünf Abenden hintereinander im Théâtre L’Aire Libre vor den Toren der Stadt
aufführen sollte. Jeden Abend wollte ich mit dem Bus in das Theater fahren,
jeden Abend auf dem selben Platz sitzen. Dass ich alle fünf Auftritte
anschauen wollte, empfand Fishbach als verrückt.
## Triumphaler Abend
Sie sei gespannt, ob ich eine Entwicklung in die eine oder andere Richtung
ausmachen würde, sie selbst wisse überhaupt nicht, was sie von diesem
Marathon erwarten solle. Nie zuvor hatte ich mehr als einen Auftritt einer
Band hintereinander gesehen. Gleich der erste Abend war triumphal, obwohl
niemand Fishbachs neue Stücke kannte, die sie mit der dreiköpfigen Band für
ihr kommendes Debütalbum aufgenommen hatte.
Die Entscheidung, auf einen Schlagzeuger zu verzichten, um synthetischen
Drumsounds Raum zu geben, war goldrichtig gewesen, die Musiker:innen
eigenwillige Charaktere, die jeweils geniale Solomomente hatten. Ich war
fasziniert von den Nuancen, die jedes Konzert charakterisierten, von den
Veränderungen im Zusammenspiel der Band und dem jeden Abend divergierenden
Agieren von Fishbach.
Einen Einbruch gab es an Tag drei. Gesundheit und Gitarre spielten nicht
mit, die Sängerin war unzufrieden, brüllte, vom Mikrofon abgewandt, ihre
Wut heraus und verzichtete auf eine Zugabe. Nach dem Konzert ließ sie lange
auf sich warten. „Ich kann nicht empfehlen, am Tag eines Auftritts zum
Osteopathen zu gehen. Vor allen Dingen nicht, wenn es das erste Mal
überhaupt ist!“
Nun war ich also zum Fan geworden, hatte mich mehrfach mit der Künstlerin
unterhalten, und ein geschäftliches Interesse gab es auch – ich wollte ihr
ein Auftragswerk anbieten, das sie bei „Pop-Kultur“ aufführen könnte. Wov…
Fishbach sang, wusste ich allerdings noch immer nicht. Mein
Schulfranzösisch reichte zum Verständnis ihrer Texte nicht aus.
## Musik zur Krise
Trotzdem fühlte ich, verstanden zu haben, worum es in ihrer Musik ging: um
Verzweiflung und Sehnsucht, um Wahnsinn, um Krisen. Nach ihrem letzten,
umjubelten Auftritt in Rennes offenbarte ich mich und fragte Flora
Fischbach, wie sie einen Begriff fände, den ich für ihre Musik erfunden
hätte, ich hatte dabei auch an die terroristischen Anschläge im Bataclan
und auf Charlie Hebdo gedacht, an einen zunehmend düsteren Sound, den ich
meinte in der zeitgenössischen, französischen Popmusik ausgemacht zu haben:
„Krisenmusik, musique de crise?!“ Sie sagte nur: „Du hast alles
verstanden.“
Im Januar 2017 erschien Fishbachs Debütalbum „À ta merci“. In Frankreich
wurde es ein großer Erfolg. (Das Auftragswerk, eine Zusammenarbeit mit der
Berliner Modedesignerin Lou de Bétoly, wurde im August 2017 in der Berliner
Kulturbrauerei aufgeführt.) Im Dezember desselben Jahres, wieder in Rennes,
erzählte Fishbach, dass sie ein zweites Album Anfang 2019 veröffentlichen
wollen würde.
## Rolle in „Vernon Subutex“
Dazu kam es aber nicht, denn die mutige und selbstbewusste Flora Fischbach
wurde Schauspielerin und spielte die zurückhaltende und unsichere
Filmproduktionsassistentin Anaïs in der TV-Serienverfilmung von Virginie
Despentes’ Roman „Vernon Subutex“ beim französischen Sender Canal Plus. …
Model arbeitete sie für Paco Rabanne und trat in dem opulent inszenierten
Kurzfilm „The Apparation“ des Pariser Modehauses auf, das sie bis heute
ausstattet. Als DJ legt sie regelmäßig in Paris und Moskau auf.
Als wir uns Ende 2019 zum Abendessen in Paris unweit eines Aufnahmestudios
trafen, berichtete sie mir von ihrem Umzug – weg aus Paris, zurück in ihre
Geburtsstadt, Charleville-Mezières im Nordosten Frankreichs. „Paris ist mir
zu trubelig. Ich brauche Ruhe.“ Sie sprach von der Arbeit an ihrem zweiten
Album und einer ersten Single, „ich schätze, es wird Herbst 2020!“ Gut Ding
will Weile haben.
Die erste Auskopplung aus ihrem zweiten Album „Avec les yeux“, das nun
endlich erscheint, kam Ende 2021 heraus. Wie schwer das lange Warten der
Künstlerin wohl gefallen sein mag? „Téléportation“ ist ein pompös
produziertes Klagelied mit kreischendem Gitarrensolo und
symbolistisch-expressionistischen Texten („Der Abend ist weiß mit all
seinen Zähnen /Ich beobachte mich / Wer hat die Wände weiß gestrichen? / Es
weckt mich auf“).
Musikalisch abwechslungsreich, mit ulkigen Pub-Rock- und
Stadion-Pop-Ausflügen, textlich größtenteils schwer zu dechiffrieren,
sowohl für Muttersprachler:innen als auch für Google Translate: „Avec
les yeux“ ist ein eigenwilliges, herausforderndes und mitreißendes Album
geworden.
Es zeigt eine vielseitige Künstlerin, die sich Zeit gelassen hat, um ein
tiefgründiges Werk abzuliefern, das uns mit seinem Facettenreichtum noch
lange beschäftigen wird.
23 Feb 2022
## LINKS
[1] /Der-junge-Modedesigner-Pierre-Cardin/!5635544
[2] /Die-Geschichte-des-Gilles-Bertin/!5525499
[3] https://www.youtube.com/watch?v=ln0VwCqMkcA
[4] /Synthesizerpionier-Richard-Pinhas/!5493586
## AUTOREN
Martin Hossbach
## TAGS
Schwerpunkt Frankreich
Pop
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Wald
Paris
Virginie Despentes
Chanson
Musikfestival
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