# taz.de -- Über Sprachverarbeitungen: Mythen formen unser Wissen | |
> Nach 16 Jahren Merkel ist „Kanzler“ aus meinem Wortschatz verschunden. | |
> Wie viele Kanzler braucht es, bis „Kanzler“ mir wieder normal erscheint? | |
Bild: Jetzt regiert er: Kanzler Olaf Scholz | |
Brauchen Sie auch jedes Mal ein Sekündchen, wenn jemand „der Kanzler“ sagt? | |
Ganz richtig hört sich das nicht an, oder? Nicht falsch, aber einfach nicht | |
ganz vertraut – so wie wenn jemand „eine Lunte brechen“ sagt oder „Ewig | |
währt am längsten“. Nun liegt es zweifellos [1][am ewigen Währen der | |
Kanzlerin], dass Kanzler aus meinem Wortschatz verschwunden ist. | |
Ich bin zwar nicht sechzehn und habe schon Kanzler erlebt. Aber Kanzler | |
Schröder ist mittlerweile heillos überschrieben von Altkanzler Schröder | |
(besser noch: Fossilkanzler Schröder). Vor Kanzler Kurz indes haben sich | |
diverse Spitznamen geschoben. Helmut Kohl wiederum war mein erster Kanzler | |
und deswegen hat mein Hirn nur [2][Bundeskanzlerkohl] abgespeichert. Ebenso | |
wenig erscheint das Amt der Kanzlerin jetzt zu trennen von der, nunja, | |
Kanzlerin. Womöglich geht es Ihnen anders, wenn Sie mehr Kanzler erlebt | |
haben. Aber meine Sprachverarbeitung weigert sich noch zu akzeptieren, dass | |
so ein dahergelaufener Olaf das Kanzlerinnenamt so einfach ausfüllen können | |
soll. Höchstens zur Vertretung. | |
Das hat nichts mit Überzeugung zu tun. Ich war nie besonderer Fan von | |
Merkel. Ich bin ihr dankbar für einiges, bewundere sie für mehreres. Ich | |
bin hingegen nicht der Meinung, dass ihr, nur weil sie ihren Job gemacht | |
hat ohne zwischendurch autoritär-narzisstische Anwandlungen zu kriegen, der | |
Friedensnobelpreis gebührt. Aber meiner Sprachverarbeitung sind | |
Überzeugungen egal. | |
## Mythen sind keine Ausnahme | |
Das ist, wie Mythen gemacht werden. Assoziieren und vergessen: Das | |
Oberhaupt der Regierung heißt Kanzlerin und es gab nie eine andere. | |
Virologen haben immer dunkle Strubbelhaare und ein freundlich geknautschtes | |
Gesicht. Markus Söder ist die Vernunft in Person. | |
Der Mythos wird „zweite Natur“, sagt Roland Barthes und ekelt sich davor. | |
Aber Mythen sind keine Ausnahme, sondern formen, was wir wissen. | |
Als Merkel antrat, wurde diskutiert, ob man das Wort „Kanzler“ überhaupt in | |
eine weibliche Form überführen müsse. Oder ob man à la française eher ein | |
„Madame le Ministre“ draus machen müsse. Heute hat die Kanzlerin diese | |
Debatte elegant überholt, ohne sie jemals einzuholen – während ich | |
zeitgleich immer noch Mühe habe, mir Kindergärtner und Klempnerinnen | |
überhaupt bildlich vorzustellen, ohne dass ein dummer Spruch an meine | |
Lippen klopft. | |
Wie viele Kanzler, bis Kanzler mir wieder normal erscheint? Vielleicht bloß | |
der eine. Vielleicht bin ich schon in zwei bis drei Wochen wieder | |
eingenormt. Heimlich sage ich bis heute „Rückrad“, wenn ich „Rückgrat“ | |
meine, weil ich keine Lust habe, das Wort korrekt zu verdrahten. Und auch | |
ein bisschen Angst habe, dass der Teil von mir, der „Rückrad“ gelernt hat, | |
dann verschwindet. Aber nun hab ich Angst, den Teil von mir zu verlieren, | |
für den ein Kanzlerinnenamt mal das Normalste der Welt war. | |
19 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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