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# taz.de -- Altenpflege-Skandal in Frankreich: Sparen hinter der Luxusfassade
> Ein Buch deckt auf, wie Frankreichs größtes Unternehmen in der
> Altenpflege maximale Profite erzwingen wollte. Das ist nun auch
> Wahlkampfthema.
Bild: Die Seniorenresidenz Les Bords de Seine des Orpéa-Konzerns
Paris taz | Mit seiner Aussicht auf die Seine und die Flussinsel Grande
Jatte sowie dem großen Toreingang wirkt das Altenheim Les Bords de Seine im
Pariser Nobelvorort Neuilly wie ein Luxushotel. Mit 6.500 Euro pro Monat
für ein Einzelzimmer und bis zu 12.000 Euro für eine Suite mit Vollpension
ist der Aufenthalt um ein Mehrfaches teurer als anderswo. Lange war dieses
Heim für das Unternehmen Orpéa eine Art Schaukasten, worin Besuchern aus
aller Welt das französische Know-how der [1][kommerziellen Betreuung von
pflegebedürftigen Senioren] vorgeführt wurde. Orpéa betreibt allein in
Frankreich 226 Pflegeheime für Betagte und gilt in diesem Sektor als
weltweit größtes Unternehmen.
Hinter der attraktiven Fassade am Seine-Ufer aber war nicht alles zum
Vorzeigen. Der Journalist Victor Castanet hat nach Hinweisen ehemaliger
Beschäftigter drei Jahre lang recherchiert – und was dabei herauskam, hat
seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Sein Buch „Les Fossoyeurs“
(„Die Totengräber“) aus dem Verlag Fayard hat in Frankreich einen
nachhaltigen Skandal ausgelöst, der auch im derzeitigen
Präsidentschaftswahlkampf seine Wellen schlägt.
Es ist nicht das erste Mal, dass in Frankreich und auch anderswo unhaltbare
Zustände in einem Altenheim öffentlich angeprangert werden. In diesem Fall
aber enthüllt das Buch ein gesamtes Geschäftsmodell, das laut Autor
„systematisch“ darauf abzielt, mit pingeligen Einsparungen inklusive der
„Rationierung“ von Seniorenwindeln pro Tag und Person die Rentabilität zu
steigern.
Die Profitmaximierung sei von dem Firmengründer Jean-Claude Marian zur
Devise erhoben worden. Das Geschäft mit den Alten müsse Gewinn
„ausspucken“, habe Marian auf Sitzungen jeweils verlangt, sagen Insider.
Marian ist nach dem Verkauf seines restlichen Kapitalanteils für angeblich
rund 770 Millionen Euro nur noch Ehrenpräsident von Orpéa.
## Mehr als 200 Personen bezeugten Missstände
Es wurde nicht nur am Material oder selbst am Essen gespart, sondern auch
an der Besetzung, sagt Camille Lamarche, die als Juristin in der
Personalabteilung der Unternehmensführung tätig war. Auch mehrere
Sprecher*innen von Gewerkschaften bestätigen, wie der Stellenmangel und
die Beschäftigung von unqualifizierten Leuten mit prekären Verträgen zur
Verschlechterung der Lebensbedingungen führten.
Ausgehend von Missständen im Seniorenzentrum von Neuilly, sammelte Castanet
in Gesprächen mit mehr als 200 Personen Informationen und Dokumente, um
seine Vorwürfe gegen die französische Gruppe zu untermauern. Besonders
schwerwiegend und womöglich Gegenstand von Strafuntersuchungen ist die
Enthüllung von Buchhaltungstricks, mit denen Orpéa laut Castanets Zeugen
von zahlreichen Lieferfirmen bei der Fakturierung „Rückkommissionen“
verlangt und bekommen habe.
Orpéa dementiert alles kategorisch. Doch nach dem Erscheinen des
Enthüllungsbuchs am Montag wurde Yves Le Masne nach immerhin 28 Jahren als
Orpéa-Generaldirektor abgelöst. Es herrschte Handlungsbedarf: Innerhalb
von drei Tagen war wegen des Skandals der Börsenkurs der Gesellschaft
vorübergehend um 38 Prozent gesunken.
Le Masne, der im Voraus informiert war, hatte seine Aktien kurz vor dem
Erscheinen des Buchs abgestoßen, um seine Millionen in Sicherheit zu
bringen. Sein Ex-Boss Marian gehört zu den 500 reichsten Franzosen.
## Präsident hatte große Reform versprochen
Die Regierung muss nun befürchten, dass ein Schatten des Skandals auf sie
zurückfällt. Denn letztlich wird deutlich, dass die Kontrollen in den
privatwirtschaftlich betriebenen Altersheimen durch die zuständigen
staatlichen Behörden völlig ungenügend waren.
Die Vizeministerin für die Senioren, Brigitte Bourguignon, erklärte, sie
sei empört wegen der „puren Heuchelei“ der Orpéa-Führung. Es gelte „st…
zu sein, um zu zeigen, dass man „in diesem Land nicht tun und lassen kann,
was man will“, sagte sie und kündigte eine administrative Untersuchung
sowie eine Finanzkontrolle der Gruppe an. Die attackierte
Unternehmensleitung hat ihrerseits zwei unabhängige Firmen mit der
Überprüfung der Fakten beauftragt.
Wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen wird die Seniorenpflege
unweigerlich zu einem Wahlkampfthema. Staatspräsident Emmanuel Macron wird
an sein Versprechen von 2017 erinnert. Er kündigte damals eine „große
Reform“ zur Unterstützung der [2][Pflegebedürftigen] samt Investitionen von
10 Milliarden Euro an, die dann – wegen anderer Prioritäten während der
Pandemie – auf der Liste unerledigter Aufgaben liegen blieb.
4 Feb 2022
## LINKS
[1] /Senioren-gegen-Kommerzialisierung/!5216174
[2] /Debatte-Reform-der-Pflegeversicherung/!5111927
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## TAGS
Alten- und Pflegeheime
Schwerpunkt Frankreich
Senioren
Skandal
Altenpflege
Altern
Christiane Taubira
Schwerpunkt Emmanuel Macron
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