| # taz.de -- Zwiebel ohne beißende Dämpfe: Nicht zum Heulen | |
| > Alles Bittere und Ätzende wird mundgerecht und handhabbar gemacht. In | |
| > Ordnung. Aber manchmal muss auch der Oberrealo wütend werden. | |
| Bild: Bis einer heult: Filmszene aus „Mug Town“ aus dem Jahr 1942 | |
| Meine Tochter steht neben mir in der Küche. „Kannst du mir mal das scharfe | |
| Messer für die Tomaten geben?“, bitte ich sie. „Mmmmhhhh“, kommt als | |
| Antwort. Ich sehe sie an: Ah, sie schneidet Zwiebeln. Und damit die Augen | |
| nicht tränen, hat sie den Mund voller Wasser. Es hilft so lala. | |
| Da gibt es jetzt eine Lösung: In britischen Supermärkten hält laut einem | |
| Bericht des Guardian jetzt die „Sunion“ Einzug: [1][eine Zwiebel, 30 Jahre | |
| so gezüchtet, dass ihre Dämpfe uns nicht mehr in den Augen beißen]. Wieder | |
| ein Menschheitsproblem weniger. Alte Menschen wie ich erinnern sich: Früher | |
| setzte kurz der Atem aus, wenn man Radieschen oder Rettich an die | |
| Mundschleimhaut brachte, so scharf konnten sie sein. Paprika und Grapefruit | |
| waren so bitter und sauer wie das echte Leben. | |
| Alles weggezüchtet, alles mundfertig gemacht. Und das nicht nur beim Essen. | |
| Aus Punk wurde Mode, aus No Future wurden Start-ups. Das Versprechen von | |
| Cola light: Genuss ohne Reue. Alles haben, aber nichts dafür tun. | |
| Man könnte kulturpessimistisch sagen: Der anstrengungslose Überkonsum | |
| bringt uns um. Der Aufstand kann noch so systemsprengend beginnen, am Ende | |
| landet er beim Merchandising von Disney. Die tränenlose Zwiebel ist sicher | |
| für viele geplagte KöchInnen ein Fortschritt. Aber der Preis für | |
| tränenlosen Erfolg ist hoch: Anpassung ans System, der Verlust von klugen | |
| Ideen und denkbaren Alternativen. | |
| Aus den Weltrettern wurden die Grünen. Aus dem guten alten Querdenken | |
| wurden durchgeknallte Schwurbler. Aus dem Widerstand gegen Autos in der | |
| City wurde Elektromobilität. Aus der Wut auf die Kohlelobby wurden | |
| Milliarden an Subventionen und Strukturhilfen. Aus dem Kampf gegen | |
| Kunststoff wurde die Megabranche „Recycling“. Aus dem Schlachtruf „Schluss | |
| mit dem CO2“ wurden Emissionszertifikate. Aus Empörung wurde Greenwashing. | |
| Ich bin [2][selbst der größte Oberrealo]. Wenn es das Klima retten würde, | |
| würde ich selbst mit dem Chef von ExxonMobil Hamburger essen. Aber manchmal | |
| sollten wir nicht verstehen, zuhören und überzeugen wollen. Manchmal und | |
| bei manchen Zeitgenossen sollten wir laut und wütend werden, das Bittere | |
| ausspucken und das Widerliche anspucken. Manchmal brauchen wir nicht das | |
| Ergebnis von 30 Jahren Zuchterfolg, sondern die Wut über 30 Jahre | |
| Niederlagen im Klimaschutz, seit wir 1992 mit der UN-Klimakonvention | |
| geschworen haben, die Welt zu retten. Dann fehlt es nicht an Vernunft und | |
| Einsicht, sondern an Entschlossenheit, Konfrontation und Kampf. Im Zweifel, | |
| bis einer heult. Mit oder ohne Zwiebel. | |
| 14 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Traenenlose-Zwiebeln-im-UK/!5825227 | |
| [2] /Wahlsieger-Winfried-Kretschmann/!5755160 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernhard Pötter | |
| ## TAGS | |
| Wir retten die Welt | |
| Grüner Kapitalismus | |
| Klima | |
| Zwiebeln | |
| Wir retten die Welt | |
| Zwiebeln | |
| Familie | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Zwischen Krieg und Klimakrise: Die Blase der Unverwundbarkeit | |
| Das Leben in der Komfortzone fühlt sich gleichzeitig vertraut und seltsam | |
| an, wenn Bilder von Krieg und Zerstörung ins Haus fluten. | |
| Tränenlose Zwiebeln im UK: Mehr optimierte Lebensmittel! | |
| In Großbritannien kommt jetzt eine Zwiebel auf den Markt, von der man nicht | |
| mehr weinen muss. Das taz-Gesellschaftsressort hätte da noch ein paar | |
| Wünsche. | |
| Wirtschafts- und Klimaministerium: Energiewende als Familienprojekt | |
| Deutschlands Unternehmen organisieren sich gern in Clans und | |
| Verwandtenzirkeln. Das gilt jetzt auch für das grüne Wirtschafts- und | |
| Klimaministerium. | |
| Der ADAC und die Benzinbübchen: Billiges Jammern beim Spritpreis | |
| Wer glaubt, Autofahren sei noch nie so teuer gewesen wie heute, ist auf | |
| Fake News reingefallen oder schlecht in Mathe. Unser Autor kann rechnen. |