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# taz.de -- Debatte um Coronazahlen in Bayern: Wenn der Zweck die Zahlen heiligt
> Markus Söder hantierte in der Pandemie mit schrägen Zahlen. Bayerns FDP
> sieht darin einen Skandal, teilt aber nicht die Rücktrittsforderung von
> Parteifreund Kubicki.
Bild: Wegen Statistikfehlern in der Kritik: Bayerns Ministerpräsident Markus S…
München taz | Es ist der 18. November 2021, als sich Markus Söder mal
wieder an sein Volk wendet – mit einem dringenden Appell: „Leider nehmen
die Corona-Infektionen gerade bei Ungeimpften dramatisch zu“, schreibt der
bayerische Ministerpräsident auf Twitter. „Es gibt einen direkten
Zusammenhang von niedrigen Impfquoten und hohen Infektionsraten. Lassen Sie
sich daher bitte impfen. Nur Impfen hilft.“
Und dann fügt er seinem Tweet noch eine beeindruckende Grafik über die
„Sieben-Tage-Inzidenz bei geimpften und ungeimpften Personen in Bayern“
hinzu. Während sich in dem Diagramm der Balken für die Geimpften mit einem
kleinen Ausschlag begnügt, geht der Balken für die Ungeimpften über die
gesamte Breite der Grafik. In Zahlen sind das 110 gegenüber 1.469
Infizierten pro 100.000 Einwohnern. Sprich: Die Sieben-Tage-Inzidenz ist
bei den Ungeimpften mehr als 13 Mal höher als bei den Geimpften. Die Zahlen
hat das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) tags
zuvor für den Freistaat erhoben.
## FDP-Chef sieht Täuschung der Menschen
Die Dringlichkeit des Impfappells sieht auch Bayerns FDP-Chef Martin Hagen.
Dennoch erhebt er massive Vorwürfe gegen [1][Söder und dessen Regierung]
wegen der Äußerung, die der Ministerpräsident so oder ähnlich dann noch
mehrfach in der Öffentlichkeit wiederholt habe, zum Beispiel in seiner
Regierungserklärung am 23. November. Denn, so Hagen, die Regierung hantiere
mit falschen Zahlen. In Wirklichkeit sei die Sieben-Tage-Inzidenz bei
Ungeimpften im November etwa dreimal so hoch gewesen wie bei den Geimpften,
nicht 13 bis 16 Mal, wie von Söder und anderen in der Folge immer mal
wieder behauptet. Man habe die Menschen auf diese Weise getäuscht.
Hagen, der auch Fraktionschef der Liberalen im Landtag ist, stört sich
daran, dass das LGL bei der Berechnung der Inzidenzen all diejenigen
Infizierten, über deren Impfstatus keine Informationen vorlagen, einfach
mal den Ungeimpften zugeschlagen hat. Und das, obwohl deren Zahl sehr hoch
ist. An besagtem Stichtag beispielsweise machten sie immerhin 67 Prozent
aller gemeldeten Infizierten aus. Seit Wochen forderte er daher die
Veröffentlichung der tatsächlichen Zahlen.
Die Regierung wechselte zwischenzeitlich die Leitung des LGL aus. Das ist
aus Sicht Hagens ein Schuldeingeständnis. Ansonsten begnügte man sich aber
damit, gegen die Kritiker zu keilen. Gesundheitsminister Klaus Holetschek
bezeichnete die Kritik in einer Landtagsdebatte als „armselig“.
CSU-Generalsekretär Markus Blume [2][schrieb auf Twitter]: „Martin Hagen
verrennt ich und reiht sich langsam ein in die Gruppe der
Verschwörungstheoretiker. Hier formieren sich nicht Freie Demokraten,
sondern Faktenfreie Demokraten.“ Und sogar aus den Oppositionsreihen gab es
Unterstützung für Söders Mannschaft: Während sich die SPD ebenfalls über
die „fragwürdigen Zahlen“ beklagte, attackierten die Grünen Hagen, der si…
angesichts größerer Probleme mit „Statistikfehlern“ aufhalte.
Erst am vergangenen Freitag veröffentlichte das LGL nun die Rohdaten, auf
Basis derer es im Zeitraum von Ende August bis Anfang Dezember die
Inzidenzen berechnete. Das Ergebnis beispielsweise für den 17. November:
Hätte man nur die Zahl der tatsächlich Ungeimpften für die Berechnung der
Inzidenz herangezogen, hätte sich der deutlich niedrigere Wert von 334
ergeben.
## Hagen: „Statistisch völlig abwegig“
Das LGL seinerseits rechtfertigt sich damit, dass die von ihm genannten
Inzidenzwerte für Ungeimpfte deutlich näher an den vier Wochen später
erfolgten Nachberechnungen lagen. Die Werte also, in die auch die
Nachmeldungen zum Impfstatus einbezogen wurden. Eine Aussage, die
allerdings zwei Haken hat: Zum einen trifft sie in erster Linie für die
Monate August und September zu, danach meist nicht mehr. Zum anderen lässt
sie außer Acht, dass dadurch die Inzidenz bei den Geimpften umso mehr
unterbewertet wurde.
Die Vorgehensweise des LGL bezeichnet Hagen als „statistisch völlig
abwegig“. „Jeder Statistikstudent im ersten Semester würde damit in der
Prüfung durchfallen.“ Im November und Dezember sei die Inzidenz bei
Ungeimpften lediglich etwa dreimal höher gewesen als bei Geimpften. Hagen
beruft sich dabei auch auf die Statistik-Experten Daniel Haake und
Christoph Rothe.
„Die Art der Berechnung durch das LGL ist insbesondere deswegen so
problematisch, weil das Risiko für die Geimpften systematisch
kleingerechnet wurde“, kritisiert Hagen. So hätten sich Geimpfte in einer
falschen Sicherheit wähnen und womöglich zu sorglosem Verhalten hinreißen
lassen können. Außerdem habe es möglicherweise dazu geführt, dass
politische Entscheidungen nicht früh genug getroffen worden seien, etwa die
für eine Boosterkampagne. „Der Schaden ist aber vor allem deswegen immens,
weil Vertrauen kaputtgemacht wurde – dadurch, dass eine staatliche Behörde
falsche Zahlen veröffentlicht, aber auch durch den Umgang mit diesem
Fehler.“ Diesen gestehe die Regierung bis heute nicht ein, sondern rede ihn
klein.
Hagen vermutet, dass die Behörde möglichst drastisch die Notwendigkeit der
Impfung habe demonstrieren wollen. „Also ein gutes Ziel, das ich teile.
Aber man hat das Gegenteil erreicht. Man hat Vertrauen verspielt und so
auch der Impfkampagne einen Bärendienst erwiesen.“ Die Art der Berechnung
wurde vor wenigen Wochen zunächst eingestellt, da die Ungenauigkeiten mit
dem Anstieg der Infektionszahlen zu hoch geworden waren.
Markus Söder nimmt der FPD-Mann in Schutz – nicht zuletzt vor seinem
Parteifreund Wolfgang Kubicki. „Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass
der Ministerpräsident wusste, wie diese Zahlen berechnet werden. Ich
unterstelle mal zu seinen Gunsten, dass er von seiner eigenen Behörde
getäuscht wurde.“ Einen Rücktritt halte er daher auch nicht für angezeigt.
Genau den hatte Wolfgang Kubicki am Wochenende gefordert. Der
Stellvertreter der Bundestagspräsidentin und des FDP-Chefs sagte der Welt
am Sonntag: „Entweder er wollte ein schiefes Bild über die von Umgeimpften
ausgehende Infektionsgefahr zeichnen und eine Gruppe von Menschen damit
amtlich stigmatisieren, oder er hat seinen Laden nicht im Griff. Sowohl das
eine wie auch das andere sind ausreichende Gründe für einen Rücktritt.“
10 Jan 2022
## LINKS
[1] /CSU-Korruptionsskandal/!5756836
[2] https://twitter.com/MarkusBlume/status/1473323127971225604
## AUTOREN
Dominik Baur
## TAGS
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