| # taz.de -- Die Zeichnungen Franz Kafkas: Wie die Macht im Körper sitzt | |
| > Die „letzte Unbekannte von Kafkas Schaffen“ kann endlich besichtigt | |
| > werden: Eine Prachtausgabe präsentiert über 150 Zeichnungen des Prager | |
| > Dichters. | |
| Bild: Pferd mit Jockey von Franz Kafka mit Bleistift auf liniertes Blatt gezeic… | |
| Wie witzig: Mitten zwischen trockenen juristischen Ausführungen über die | |
| Bedeutung von Urkunden – jede Zeile mit blauem Stift leicht wellenförmig | |
| unterstrichen – kämpft sich ein kleiner, mit Bleistift gezeichneter | |
| Ozeandampfer durch offenkundig schwere See. Am Ende dieser Seite aus einem | |
| Vorlesungsskript finden sich noch zwei Figuren, die mit dem Rücken zum | |
| Betrachter an einer Art Reling stehen, die Köpfe über die letzte Zeile | |
| Juristendeutsch gleichsam sehnsüchtig hinausgereckt. | |
| Schauen sie dem Dampfer nach? Oder stehen sie selbst an Bord? Und wohin | |
| geht die Reise überhaupt? Am Ende nach „Amerika“, wo die Auswanderer im | |
| Hafen von New York von einer Freiheitsstatue erwartet werden, die ein | |
| kurioses „Schwert“ in die Höhe reckt, das es so nur in der Fantasie dieses | |
| mutmaßlich gerade gelangweilten Prager Jurastudenten geben wird? | |
| Jahrzehntelang war der Inhalt jener Schweizer Bankschließfächer, in denen | |
| Max Brods Nachlass aufbewahrt wurde, der Gegenstand wildester | |
| Spekulationen. Enthielten sie bislang unbekannte Kafka-Manuskripte? | |
| Experten wie Rainer Stach, Autor einer dreibändigen Franz-Kafka-Biografie, | |
| hatten freilich stets abgewiegelt, unter Verweis auf ein längst bekanntes | |
| Nachlass-Inventar. „Bestenfalls ein paar Zeichnungen“ seien noch von dem | |
| Prager Autor zu erwarten, vermutete Stach 2010, auf dem Höhepunkt des | |
| jahrelangen Rechtsstreits um Brods Nachlass. Dieser Streit wurde inzwischen | |
| bekanntlich vom Obersten Gerichtshof Israels zugunsten der israelischen | |
| Nationalbibliothek entschieden, die im Jahr 2019, 95 Jahre nach Kafkas Tod, | |
| den Inhalt der Schließfächer von der UBS ausgehändigt bekam. | |
| Stach sollte recht behalten. Aber jetzt, da die „paar Zeichnungen“ – es | |
| sind insgesamt über 150, entstanden auf Einzelblättern, im Zeichenheft, auf | |
| Postkarten oder in (Reise-)Tagebüchern und Briefen – in einer prachtvollen, | |
| großformatigen Ausgabe des C. H. Beck Verlags vorliegen, kann man nur | |
| staunend sagen: Was für eine herrliche Untertreibung! Gut, natürlich | |
| weniger wegen des putzigen Ozeandampfers, der wie das Gros des neu | |
| entdeckten Bestandes in Kafkas Studienjahren, zwischen 1902 und 1906, | |
| entstanden ist. | |
| ## Penis stolz vor sich hertragen | |
| So sehr sich der Herausgeber Andreas Kilcher bemüht, die Eigenständigkeit | |
| und sogar Gleichrangigkeit von Kafkas Zeichnungen („die letzte große | |
| Unbekannte von Kafkas Schaffen“) gegenüber seinen Texten starkzumachen, | |
| wird man am Ende zugeben müssen: Wären von diesem Schaffen allein diese oft | |
| skizzenhaft-unfertig wirkenden Zeichnungen erhalten geblieben, es wäre doch | |
| fraglich, ob Kafka es mit ihnen über eine Fußnote in der Geschichte der | |
| modernen Kunst hinausgebracht hätte. | |
| Seien wir also ehrlich: Wir können gar nicht anders, als diese mit größter | |
| Reduktion gezeichneten grotesken, rätselhaften, wundersam im Raum | |
| schwebenden Figuren mit ihren überlangen Extremitäten, komischen | |
| Verrenkungen und zigarrenartig gestreckten Leibern vor dem Hintergrund von | |
| Kafkas Leben und Schreiben zu betrachten und mit Bedeutung aufzuladen: ob | |
| sie nun wie ein Fechter einen unsichtbaren Feind dynamisch im | |
| Ausfallschritt attackieren, ob sie resigniert, den Kopf in den Händen, am | |
| Tisch sitzen oder ob sie mit einem stolzen Grinsen im frei über dem Körper | |
| schwebenden Gesicht durch die Gegend paradieren und dabei einen erigierten | |
| Penis stolz vor sich hertragen. | |
| ## Anschluss an die Prager Kunstszene | |
| Auffallend ist, worauf auch Judith Butler in ihrem dem Band beigefügten | |
| Essay hinweist, der Bezug vieler dieser Figuren zu Kafkas Kernthema Macht | |
| und wie diese sich in den menschlichen Körper einschreibt: wie bei der | |
| phallusartigen Figur, die gerade den Herabschauenden Hund zu üben scheint | |
| und dabei den Hintern demütig in die Höhe reckt. Oder beim Jockey, der sein | |
| Pferd unerbittlich über ein Hindernis treibt. Gar nicht erst zu reden von | |
| der Folterszene, die sich in einem Brief an Milena Jesenská aus dem Jahr | |
| 1920 findet: Arme und Beine des Delinquenten sind an stangenartigen | |
| Vorrichtungen gefesselt und werden gerade so gedreht, dass das Opfer in der | |
| Mitte entzweigerissen wird – während der „Erfinder“ der Apparatur daneben | |
| genüsslich an einer Säule lehnt. | |
| Die Folterszene gehört zu jener Handvoll Kafka-Zeichnungen, die schon | |
| vorher bekannt war; einige gruben sich etwa als Titelabbildungen von | |
| Fischer-Taschenbuchausgaben ins Leser:innengedächtnis ein. Gänzlich | |
| neu ist die Leidenschaft gerade des jungen Kafka fürs Zeichnen also | |
| durchaus nicht, schon der vor Kurzem [1][verstorbene Klaus Wagenbach] hat | |
| dem Thema in seinem Band „Franz Kafka – Bilder aus seinem Leben“ eine | |
| Doppelseite gewidmet. Vor allem als Student schwankte Kafka noch | |
| unentschlossen zwischen bildender Kunst und Literatur, besuchte neben | |
| seinem Jura-Studium Vorlesungen in Kunstgeschichte, suchte Anschluss an die | |
| Prager Kunstszene und nahm Zeichenunterricht. | |
| ## Zeichnungen sollten vernichtet werden | |
| Aus dieser Zeit stammen die meisten der jetzt veröffentlichten Werke, | |
| darunter auch sein Zeichenheft. „Du, ich war einmal ein großer Zeichner“, | |
| erklärte er 1913 selbstbewusst seiner Berliner Verlobten Felice Bauer, nur | |
| habe er sich von einer „schlechten Malerin“ sein Talent verderben lassen, | |
| obwohl ihn das Zeichnen „mehr befriedigt“ habe „als irgendetwas“, also … | |
| auch als seine ersten Schreibversuche. In seiner testamentarischen | |
| Verfügung von 1921 erwähnte der Schriftsteller explizit neben seinen Texten | |
| auch „alles … Gezeichnete“, welches er seinem Freund Max Brod zur | |
| vollständigen posthumen Vernichtung auftrug. Was dieser bekanntlich – und | |
| wie der Testator nur zu gut hätte wissen müssen – ignorierte. | |
| Brod hatte seit den Studienjahren jedes Fitzelchen von der Hand seines | |
| Freundes aufgehoben, teilweise sogar noch aus dem Papierkorb geklaubt, wie | |
| er später erinnerte. Dass Brod das Gros des von ihm geretteten | |
| künstlerischen Œuvres Kafkas dennoch zeitlebens unter Verschluss hielt, lag | |
| offenbar an den komplizierten Besitzverhältnissen, wie Andreas Kilcher in | |
| seiner kenntnisreichen Einführung erklärt: Brod hatte noch zu Lebzeiten die | |
| Rechte an seinem Nachlass seiner Sekretärin und Vertrauten Ilse Ester Hoffe | |
| übertragen und sich somit selbst die Hände gebunden. Dabei hatte er zu | |
| Kafkas Lebzeiten wie ein Impresario seinen Freund nicht nur mit Künstlern | |
| wie Alfred Kubin bekanntgemacht, sondern ihn sogar als Illustrator an | |
| Verlage zu vermitteln gesucht. Nur gut, dass er damit keinen Erfolg hatte. | |
| 10 Jan 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Oliver Pfohlmann | |
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