| # taz.de -- Spurensuche: Kafkas unerfüllter Traum | |
| > Für den Schriftsteller Franz Kafka war Berlin ein Sehnsuchtsort. Doch | |
| > mehr als eine geplatzte Verlobung und einige kalte Monate waren ihm hier | |
| > nicht vergönnt. | |
| Bild: Franz Kafka | |
| Die Immanuelkirchstraße ist eine der stilleren Straßen in Prenzlauer Berg | |
| mit Altbauten, kleinen Läden und Bäumen. Weithin sichtbar ragt der spitze | |
| Turm der Immanuelkirche über die Baumkronen – eine | |
| bürgerlich-unspektakuläre Idylle. Für den Prager Schriftsteller Franz Kafka | |
| (1883-1924) aber war sie ein Ort der Sehnsucht. | |
| Im Jahr 1912 war Kafka nahezu besessen von dieser Straße, die er selbst nie | |
| gesehen hatte. Einen in Berlin gastierenden Schauspielerfreund schickte er | |
| eigens vorbei, um ihm eine detailgetreue Ortsbeschreibung zu liefern. | |
| „Still, abgelegen, weit von den immer roschenden Berlin“ befand sie der | |
| Freund in ostjüdischem Dialekt. Kafka war dennoch nicht ganz zufrieden. | |
| „Wer war Immanuel Kirch?“, fragte er in einem Brief nach Berlin. Und | |
| überhaupt: Sei der Norden Berlins nicht eine arme Gegend? | |
| Natürlich steckte eine Frau hinter dem großen Interesse des Schriftstellers | |
| am Prenzlauer Berg. Felice Bauer hieß sie, war Direktrice der | |
| Grammophon-Firma Carl Lindström und wohnte mit ihrer Familie in der | |
| Immanuelkirchstraße Nummer 29. Kafka hatte die reiselustige Berlinerin | |
| kennengelernt, als sie bei seinem Prager Freund Max Brod Station machte. | |
| Eine rege Brieffreundschaft entstand, die Kafka nutzte, um so viel wie | |
| möglich über Felice Bauer zu erfahren – und über Berlin, das er seit seinem | |
| Besuch 1910 liebte. | |
| Fast ein Jahrhundert später steht Hans-Gerd Koch vor dem Haus mit der | |
| Nummer 29, in dem heute Mietwohnungen und eine Weinhandlung untergebracht | |
| sind. „Franz Kafka hat dieses Haus nie betreten“, sagt er. Koch hat ein | |
| Buch über die Faszination des Schriftstellers für die Spreemetropole | |
| geschrieben: „Kafka in Berlin“ heißt die unterhaltsame Spurensuche, die vom | |
| ersten Wohnhaus der Familie Bauer bis zum letzten Wohnhaus Kafkas in | |
| Zehlendorf führt. | |
| Ein Stadtspaziergang auf Kafkas Spuren müsse an der Ecke | |
| Immanuelkirch-Winsstraße beginnen, findet Literaturwissenschaftler Koch – | |
| obwohl Kafka die Familie Bauer erst kennenlernte, als diese nach | |
| Charlottenburg gezogen war. Ein für die damalige Zeit typischer sozialer | |
| Aufstieg, so Koch: „Wer es sich leisten konnte, zog aus den dicht bebauten | |
| Neubauvierteln im Norden in die großbürgerliche, damals noch selbstständige | |
| Großstadt Charlottenburg.“ | |
| Doch Kafkas erste Briefe landeten noch in Prenzlauer Berg – mehr als 400 | |
| davon schrieben sich die beiden Verliebten zwischen ihrem Kennenlernen im | |
| August 1912 und dem Wiedersehen in Berlin im März 1913. Als sich | |
| herausstellte, dass ihre Mütter heimlich mitlasen, schrieben sich die | |
| Schreibmaschinenexpertin und der Versicherungsbeamte nur noch ins Büro. Ihr | |
| erstes reales Treffen geriet indes zu einem Desaster, sagt Koch, der sich | |
| durch Kafkas Tagebücher und Briefe gearbeitet hat: „Beim Spaziergang im | |
| Grunewald schwieg Kafka die meiste Zeit, aus Unbeholfenheit. Dann wollte er | |
| zu Kleists Grab am Wannsee. Dort lag Kleist neben seiner Freundin Henriette | |
| Vogel, die er erschossen hatte, bevor er sich selbst tötete. Felice Bauer | |
| fand das überhaupt nicht romantisch.“ Trotz dieser Panne verlobten sich | |
| Kafka und Bauer später. | |
| Koch nutzt die kurze Autofahrt zur nächsten Station, um ein verbreitetes | |
| Missverständnis über Kafka aufzuklären: „Er war nicht der körperlich | |
| verkrampfte Kopfmensch, für den ihn alle halten. Kafka war 1,80 Meter groß, | |
| gut aussehend und stets gebräunt: Er war ein Womanizer, er hatte eine große | |
| Wirkung auf Frauen.“ Wie Kochs Buch belegt, war der Prager Schriftsteller | |
| überhaupt ein fortschrittlicher Zeitgenosse: Er war Vegetarier, kaute jeden | |
| Bissen siebenmal und fühlte sich der Lebensreformbewegung zugetan, die für | |
| die Befreiung des Körpers vom Schnürkorsett und für Nacktsport im Freien | |
| eintrat. Bei der Fahrt über die Jannowitzbrücke zeigt Koch auf die | |
| Uferstelle, wo sich damals ein Flussbad befand, in dem Männer und Frauen im | |
| Wasser plantschten, allerdings in gesitteter Badebekleidung. | |
| In Berlin soll es schon kurz nach der Jahrhundertwende 150 vegetarische | |
| Restaurants gegeben haben. Kafka berichtet in einem Brief an Max Brod | |
| davon: „Es ist hier so vegetarisch, dass sogar das Trinkgeld verboten ist.“ | |
| Auch klassischeren Vergnügen ging Kafka auf seinen Berlin-Besuchen nach: Er | |
| besuchte Max Reinhardts Deutsches Theater, das Metropol in der Behrenstraße | |
| und den Künstlertreff Café Josty am Potsdamer Platz. | |
| Seinen Traum, ganz nach Berlin umzusiedeln, beendete jäh der Erste | |
| Weltkrieg. Nur in Gedanken reiste er nach Berlin, so auch, als er Felice | |
| Bauer, mit der er sich gerade ein zweites Mal verlobt hatte, darin | |
| bestätigte, für das jüdische Volksheim tätig zu werden. Beide waren der | |
| 1916 gegründeten Einrichtung zugetan, die sich der Erziehung von Kindern | |
| eingewanderter Ostjuden widmete. „Der Kulturzionismus war unter | |
| assimilierten Westjuden eine Modeerscheinung“, sagt Koch, als er vor dem | |
| Gebäude in der Max-Beer-Straße 5 hält, in dem das Heim bis 1920 | |
| untergebracht war. | |
| Durch die Konfrontation mit den viel religiöser geprägten Ostjuden begannen | |
| viele Assimilierte, nach jüdischen Wurzeln zu suchen. Die großbürgerliche | |
| Felice Bauer betrat regelmäßig das als schmuddelige Scheunenviertel, um | |
| ehrenamtlich Mädchen zu unterrichten; Kafka nahm von Prag aus regen Anteil. | |
| Heute ist die Gegend zwischen Rosa-Luxemburg-Platz und Hackeschem Markt | |
| eine der teuersten Berlins. | |
| Viel ist ohnehin nicht mehr übrig von Kafkas Berlin: Der prächtige Anhalter | |
| Bahnhof – damals Europas größte Bahnhofshalle – ist bis auf ein | |
| Portalbruchstück verschwunden. Auch das Hotel in der Nähe des Askanischen | |
| Platzes, in dem der Ankömmling auf Treffen mit der Geliebten wartete, wurde | |
| im Zweiten Weltkrieg zerstört, ebenso wie das Café Josty oder später das | |
| zweite Wohnhaus der Bauers in Charlottenburg. | |
| Dort, an der Ecke Mommsen- und Wilmersdorfer Straße, fährt Koch kurz rechts | |
| ran, um die tragische Geschichte von Franz Kafka und Felice Bauer zu Ende | |
| zu erzählen. Nach der erneuten Annäherung plante Kafka, seinen | |
| Versicherungsjob zu kündigen und Prag zu verlassen, um sich in Berlin als | |
| freier Schriftsteller und Ehemann niederzulassen. Felice Bauer sollte | |
| weiterhin arbeiten – eine für damalige Verhältnisse äußerst | |
| fortschrittliche Konstellation. Kafka, der als Reformer auch ein Faible für | |
| Gartenstädte hatte, hätte als Wohnort das grüne Karlshorst gefallen. Doch | |
| dazu sollte es nie kommen: Kafka erkrankte an Lungentuberkulose, Felice | |
| Bauer heiratete schließlich einen Bankier. | |
| Der kranke und zunehmend am Judentum interessierte Kafka trug sich darauf | |
| mit Gedanken, nach Palästina auszuwandern. Doch bereits 1923 führten ihn | |
| seine Wege wieder nach Berlin: Im Ostseeurlaub besichtigte Kafka eine | |
| Ferienkolonie des Jüdischen Volksheim. Dort lernte er eine zweite | |
| Berlinerin kennen: die Betreuerin Dora Diamant, eine aus Breslau stammende | |
| Jüdin. Wieder gab es Umzugspläne. Ein Verlag sicherte Kafka Unterhalt zu, | |
| zögern ließen ihn nur die Inflation und sein fragiler Gesundheitszustand. | |
| Er wagte es trotzdem: Kafka zog als Untermieter in die Wohnung eines | |
| Ehepaars in der Muthesiusstraße in Steglitz, später zu einem Referendar in | |
| der Grunewaldstraße. Am Haus erinnert heute eine Gedenkplakette an den | |
| prominenten Mieter. Dora Diamant besuchte den Kranken täglich, begleitete | |
| ihn auf Spaziergängen oder zur Hochschule der Wissenschaft des Judentums in | |
| der heutigen Tucholskystraße, wo Kafka hebräische Vorlesungen hörte. Heute | |
| ist das „Leo-Baeck-Haus“ Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland. | |
| In Charlottenburg stoppt Hans-Gerd Koch den Wagen, die Rundfahrt auf Kafkas | |
| Spuren ist vorbei. Seinen letzten Wohnsitz in der Busseaalle gibt es nicht | |
| mehr. Gestorben ist der Schriftsteller, der vor dem kalten Inflationswinter | |
| floh, 1924 in einem österreichischen Sanatorium. Dora Diamant und seine | |
| Traumstadt hat er nie wieder gesehen. | |
| 1 Jul 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| Nina Apin | |
| Nina Apin | |
| ## TAGS | |
| Franz Kafka | |
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