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# taz.de -- Begegnung mit einem Hund: Alfred, mein Bundespräsident
> Als Alfred, ein Boxer, in den Fahrradhelm seines Kindes pinkelt, ist
> unser Autor zunächst erzürnt. Doch dann bringt ihm der Hund so einiges
> über Demokratie bei.
Bild: „Alfred, das sollst du doch nicht machen.“
Von niemandem habe ich im Jahr 2022 so viel über Demokratie gelernt wie von
Alfred. Das ist am 15. Januar keine besonders weitgehende Aussage, werden
Sie jetzt einwenden, aber Sie kennen Alfred noch nicht.
Alfred ist ein kleiner Boxer, ein Hund. Er wohnt in meiner Nachbarschaft
und sieht für einen Boxer ganz freundlich aus. Ich habe Alfred am letzten
Wochenende kennengelernt, beim Fußballspielen im Park. Meine Kinder wollten
den neuen Ball einweihen, und so improvisierten wir aus unseren
Fahrradhelmen zwei Fußballtore.
Nun hat sich der Park inoffiziell zu einer verkappten Hundewiese
entwickelt. Offiziell gilt dort eine Leinenpflicht, die wird aber weder
eingehalten noch kontrolliert.
So kam es, dass Alfred fröhlich auf uns zurannte, sein Frauchen 30 Meter
hinter ihm. Und während eines der Kinder gerade ebenso fröhlich das
handgezählte 17:1 schoss, hob Alfred sein Bein und pinkelte an unseren
Torpfosten: in den Fahrradhelm meines Sohnes.
## Alfred sprach zu mir
„Ich fass es nicht!!!“, brüllte ich hysterisch. „Das ist so widerlich!�…
dann sagte ich noch irgendwas von „keine Hundewiese, eine Unverschämtheit“.
Alfreds Frauchen ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen, zog ein Tuch
aus der Tasche und sprach mit sanfter Stimme – nicht mit mir, sondern mit
ihrem Hund: „Alfred, das sollst du doch nicht machen.“
Was hat diese Anekdote nun mit Ihnen und mit dieser Gesellschaft zu tun?
Nun, mein erster Reflex, während Alfreds Frauchen über den Fahrradhelm
meines Sohnes wischte, war: „Bald ziehe ich in ein Haus mit Garten, dann
hänge ich ein Alfred-verboten-Schild an meinen Jägerzaun und habe mit
diesen scheiß Kötern nichts mehr zu tun.“
Doch dann sah Alfred, der Boxer, mich an und fing an zu sprechen: „Kersten,
denk doch bitte auch an Immanuel Kant und den Kategorischen Imperativ: Es
ist weder materiell noch rechnerisch möglich, dass sich jeder Mensch auf
der Welt auf seine private Scholle zurückzieht. Wenn wir in einer
Gesellschaft leben wollen, müssen wir uns arrangieren!“
Mein zweiter Reflex war, das Ordnungsamt oder gleich die Polizei zu rufen.
Während ich noch darüber nachdachte, ob Anpinkeln eine Sachbeschädigung
ist, schaute mich Alfred wieder von unten an.
„Willst du wirklich in einer Stadt leben“, fragte er, „in der wir unsere
Konflikte nur mit staatlicher Repression lösen können? Der Staat ist dafür
da, die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen. Ist nicht das eigentliche
Problem, dass es zu wenige Hundeauslaufwiesen gibt und zu wenige
Fußballplätze? Statt uns gegenseitig zu bekämpfen, sollten wir uns
gemeinsam für eine bessere Stadt für alle einsetzen!“
Alfred hat recht: Solange es keine Mehrheit für ein Hundeverbot in der
Stadt gibt, müssen wir miteinander auskommen. Wer in einer Großstadt lebt,
muss aushalten, dass die Menschen und Tiere um einen herum nicht so sind
wie man selbst (eigentlich ist man deswegen mal dort hingezogen).
Wer im neuen Jahr ein gesellschaftliches Problem lösen will, egal ob Corona
oder Klimakrise, der braucht nicht nur Regeln, sondern eine Gesellschaft,
die sie jeden Tag aufs Neue miteinander verhandelt – auch im Park.
Alfred, wenn du das liest: Danke. Und sag deinem Frauchen, sie hätte sich
einfach mal entschuldigen können.
18 Jan 2022
## AUTOREN
Kersten Augustin
## TAGS
Kolumne Materie
Demokratie
Hund
Schwerpunkt Klimawandel
Kolumne Materie
Greta Thunberg
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