# taz.de -- Vietnamesinnen und der Aufenthalt: Ein völlig legales Schlupfloch | |
> Indem deutsche Männer die Vaterschaft ihrer Kinder annehmen, erwerben | |
> Vietnamesinnen Aufenthaltstitel. Illegal ist das nicht. | |
Bild: Dong Xuan Center in Lichtenberg: Zentraler Ort für Berliner Vietnamesinn… | |
BERLIN taz | Eine Razzia der Bundespolizei gegen Scheinvaterschaften: Im | |
Visier stand dabei Anfang Dezember der Verdacht des „gewerbsmäßigen | |
Einschleusens“ von vietnamesischen Frauen und die „Vermittlung von | |
sogenannten Scheinvaterschaften in 36 Fällen“, wie die Nachrichtenagentur | |
afp schrieb. Mehrere hundert Beamte durchsuchten demnach 41 Objekte. Die | |
Ermittlungen richteten sich gegen 18 deutsche Männer und 24 vietnamesische | |
Frauen. Festgenommen wurde niemand. | |
Ging es hier wirklich um [1][die Bekämpfung einer schweren | |
Kriminalitätsform] oder nur um eine öffentlichkeitswirksame Maßnahme, um | |
etwas zu kriminalisieren, was bisher nicht strafbar ist? Der seit 1999 | |
gesetzlich mögliche und häufig praktizierte Weg einer Scheinvaterschaft | |
läuft wie folgt ab: Eine schwangere Frau, die kein Aufenthaltsrecht in | |
Deutschland hat, findet einen deutschen Mann, der die Vaterschaft für das | |
Kind anerkennt. Damit erwirbt das Kind mit der Geburt die deutsche | |
Staatsangehörigkeit. Die Mutter erhält eine Aufenthaltserlaubnis. | |
Da die Scheinväter häufig aus dem Obdachlosenmilieu stammen, können sie | |
nicht zur Zahlung von Unterhalt herangezogen werden. Sie erhalten von den | |
Frauen Geld für die Vaterschaftsanerkennung, der Bundespolizei zufolge | |
3.000 bis 6.000 Euro. Vermittlungspersonen nehmen weitere Gelder von den | |
Frauen ein, sodass diese zwischen 5.000 und 10.000 Euro für die falschen | |
Vaterschaften zahlen und sich damit hoch verschulden. | |
Dabei ist das Anerkennen einer falschen Vaterschaft bisher meist legal. | |
1998 hat der Gesetzgeber das Kindschaftsrecht novelliert. Seitdem | |
entscheidet eine unverheiratete Mutter meist selbst, wer der Vater ist. Der | |
Staat nimmt damit bewusst in Kauf, dass jemand eine Vaterschaft anerkennt, | |
ohne biologischer Erzeuger des Kindes zu sein. Der Gesetzgeber wollte mit | |
diesem Gesetz soziale Vaterschaften stärken und sich nicht in den | |
Familienfrieden einmischen. | |
## Die Not der Frauen | |
An Missbrauchsfälle hatte niemand gedacht, sind doch mit einer Vaterschaft | |
auch Pflichten verbunden. Doch der Missbrauch machte ab 1999 Sinn, als das | |
Staatsangehörigkeitsrecht verändert wurde: Seitdem kann ein Kind auch dann | |
die deutsche Staatsangehörigkeit des Vaters erben, wenn dieser nicht mit | |
der Mutter verheiratet ist. Seit mehr als zwanzig Jahren gibt es somit eine | |
ganze Generation vietnamesischer Kinder von Scheinvätern. | |
[2][Innerhalb der Community] ist man gegenüber diesem Phänomen hin und her | |
gerissen, die Risse gehen oft sogar mitten durch eine Person. Vietnamesen, | |
die anonym bleiben wollen, sagen der taz, dass sie auf der einen Seite die | |
Not der Frau sehen, sich auf so etwas einzulassen, und nicht wünschen, dass | |
den Kindern Schaden entsteht, dass diese Schummeleien aber auf der anderen | |
Seite für das Rechtsbewusstsein innerhalb der Community fatal seien. | |
Offizielle Vereinsvertreter äußern sich nicht. | |
In Kommentaren im Internet bedauern Vietnamesen vor allem, dass die | |
Community wegen der Scheinvaterschaften öffentlich in schlechtem Licht | |
dastehen könnte. Ein Betroffener ist der 17-jährige Felix, der eigentlich | |
anders heißt, aber nicht mit seinem richtigen Namen in der Zeitung stehen | |
will. Der schüchterne Schüler eines Gymnasiums hat erst vor drei Jahren | |
erfahren, dass der Mann, dessen Familiennamen er trägt und den er nie | |
bewusst kennenlernte, lediglich gegen Geld seine Vaterschaft anerkannt hat. | |
„Ich habe mich immer gewundert, warum ich einen anderen Familiennamen habe | |
als meine Mutter und Geschwister und warum ich einen deutschen Pass habe | |
und sie nicht“, sagt er der taz. | |
## Konservative ärgert der „Trick“ | |
Erklärt habe ihm das erst eine deutsche Bekannte. „Da war ich von meiner | |
Mutter enttäuscht und habe Tage nicht mit ihr gesprochen. Doch inzwischen | |
weiß ich, dass dieser Trick für meine Mutter unsere Chance war, der Armut | |
in Vietnam zu entkommen.“ Der „Trick“ ärgert konservative Politiker. | |
Zweimal hat der Gesetzgeber auf CDU-Initiative versucht, diesen speziellen | |
Vaterschaftsanerkennungen einen gesetzlichen Riegel vorzuschieben. Ein | |
Vorstoß von 2008 scheiterte 2014 vor dem Bundesverfassungsgericht. Eine | |
weitere Gesetzesänderung von 2017 greift in der Praxis nicht. | |
Erst seit diesem Jahr versucht die Bundespolizei, solche | |
Vaterschaftsübernahmen durch Kriminalisierung zu verhindern. Anwalt | |
Federico Traine, der in seiner rechtsanwaltlichen Praxis schon länger mit | |
dem Phänomen konfrontiert ist, kritisiert: „Die Bundespolizei macht | |
Rechtspolitik.“ Dass sie mit dem strafrechtlichen Vorstoß, in dem sie die | |
Praxis in die organisierte Kriminalität und den Menschenhandel einordnet, | |
gegen falsche Vaterschaften durchkommt, glaubt Traine nicht. „Ich selbst | |
verteidige drei Verfahren, in denen vietnamesische Frauen wegen falscher | |
Vaterschaften angeklagt sind.“ In einem Fall hatte das Amtsgericht die Frau | |
zur Teilnahme an einer Beratung bei einem gemeinnützigen Verein verurteilt, | |
das Landgericht habe das Verfahren aber danach eingestellt. | |
„Die beiden anderen Verfahren laufen noch. Doch ich sehe nicht, dass es da | |
zu einer Verurteilung kommt. Denn es gibt dafür keine gesetzliche | |
Grundlage.“ Vietnamesinnen und auch einige andere Migrantinnen hätten | |
vielmehr ein völlig legales Schlupfloch im Gesetz gefunden. Eines, das | |
viele allerdings als Unrecht empfinden. | |
## Die Frauen müssen die Schulden abbezahlen | |
Dass die Bundespolizei juristisch auf schwachem Fuß dasteht, sieht man auch | |
daran, dass es bei der Razzia keine Festnahmen gab. Bereits 2007 hatte das | |
Oberlandesgericht in Hamm in einem Grundsatzurteil falsche Vaterschaften | |
für nicht strafbar angesehen. Traine: „Die Bundespolizei versucht es jetzt | |
mit einer anderen juristischen Begründung. Bislang war die | |
Staatsanwaltschaft da sehr zurückhaltend mit Anklagen.“ In großen | |
Schleuserprozessen vor Berliner Gerichten seien, so Traine, die Fälle von | |
Vermittlung von Vaterschaften, die die Bundespolizei aufwendig mit | |
Telefonüberwachung ermittelte, gar nicht erst zur Anklage gekommen, | |
vermittelte Scheinehen hingegen schon. | |
Was die Bundespolizei in den Kontext der organisierten Kriminalität | |
einbettet, sehen die Sozialwissenschaftler Nga Thi Thanh Mai und Gabriel | |
Schneidecker in einer Fachpublikation als eine familienorientierte Form der | |
Migration, die hauptsächlich Frauen auf sich nehmen, um ihren Kindern in | |
Deutschland eine Chance zu geben. Betroffen sind nach ihren Forschungen | |
auch Mittelstandsfrauen aus Vietnam, die unzufrieden mit der | |
vietnamesischen Regierung sind, keine beruflichen Aufstiegschancen mehr | |
sehen oder nach Scheidung oder Tod des Partners noch einmal neu anfangen | |
wollen. Das alles sind aber keine legalen Migrationsgründe, sodass den | |
Frauen nur der Weg über Scheinvaterschaften für ein Aufenthaltsrecht | |
bleibt. Wenn die Frauen über die Geburt eines deutschen Kindes ein | |
Aufenthaltsrecht erworben haben, holen sie nach Darstellung der AutorInnen | |
öfter ihre in Vietnam lebenden Kinder, selten auch die Ehepartner nach. | |
Zu den Erfahrungen von SozialarbeiterInnen in Lichtenberg und | |
Marzahn-Hellersdorf, den Bezirken, [3][wo die oft allein erziehenden Mütter | |
zumeist wohnen], gehören aber auch die von sozialen Problemen. In einem | |
Papier von 2018, das der taz vorliegt, ist von Eltern die Rede, die | |
„permanent in der Erziehung abwesend sind“, die manchmal auch in anderen | |
Bundesländern arbeiten. Denn die Mütter stünden unter dem Druck, ihre | |
Schulden abzuarbeiten. Zu den Schulden für den Weg nach Deutschland kommen | |
noch die dazu, die sie für einen Scheinvater zahlen mussten. Laut dem rbb | |
sollen auch mehrere Notare in den Fall verwickelt sein, die die falschen | |
Vaterschaften beurkundeten. Die Datenlage ist aber unklar. | |
Barbara Helten von der Berliner Notarkammer sagt, sie habe zwar davon | |
gehört, allerdings gebe es keinen Fall, wo ein Berliner Notar wegen einer | |
missbräuchlich beurkundeten Vaterschaft verurteilt wurde. Helten weist | |
darauf hin, dass Notare eine Beurkundungspflicht haben und für die | |
Beurkundung von Vaterschaften keinerlei Honorare erhielten. Derzeit seien | |
auch keine förmlichen Beschwerdeverfahren vor der Notarkammer anhängig. | |
Beim Berliner Kammergericht sind einem Sprecher zufolge seit 2017 | |
mindestens sechs Disziplinarvorgänge deswegen geführt worden. Ob diese noch | |
laufen, in Ermittlungsverfahren mündeten oder ob sie eingestellt wurden, | |
will Sprecher Thomas Heymann aus Datenschutzgründen nicht sagen. | |
7 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Prozess-gegen-Vietnamesin/!5796717 | |
[2] /Kritik-vietnamesischer-Vereine/!5758897 | |
[3] /Vietnamesische-Community-in-Lichtenberg/!5701952 | |
## AUTOREN | |
Marina Mai | |
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