# taz.de -- Rückbau der Berliner Stadtautobahnen: Das Ende der Kiezautobahn | |
> Rot-Grün-Rot möchte zwei Stadtautobahnen im Berliner Süden zurückbauen | |
> und kratzt damit an einem Dogma der westdeutschen Verkehrspolitik. | |
Bild: Soll weg: Autobahn im Wohngebiet | |
Blechfluten bahnen sich ihren Weg durch beschauliche Altbauviertel, keine | |
zehn Meter entfernt vom nächsten Wohnzimmer. Mitten in der Stadt tut sich | |
eine dröhnende Betonschlucht auf, in der der Verkehr sechsspurig dahinrast. | |
Vom Kreuz Schöneberg über Friedenau bis zum Rathaus Steglitz zerschneidet | |
die Autobahn A 103 dichte Wohngebiete. Nur wenige Brücken überspannen den | |
urbanen Abgrund, etwa die historische Feuerbachbrücke. Fußgänger*innen | |
und Radfahrer*innen eilen hastig über das Bauwerk, um dem Lärm und den | |
Abgasen zu entkommen. | |
Die neue Berliner Landesregierung will jetzt die A 103 zusammen mit der A | |
104 zurückbauen. Damit kratzt Rot-Grün-Rot deutlich an einem | |
ungeschriebenen Dogma westdeutscher Verkehrspolitik: je mehr | |
Stadtautobahnen, desto besser. | |
Schon seit ihrem Bau im Westberlin der 1960er Jahren sorgt vor allem die A | |
103 für Furore. Damals plante man die Strecke als südlichstes Teilstück | |
einer ganzen Nord-Süd-Autobahn, der sogenannten Westtangente. Über die | |
Schöneberger Rote Insel und den heutigen Gleisdreieckpark sollte die | |
Strecke quer durch den Tiergarten und den Weddinger Sprengelkiez bis zur A | |
111 in Tegel verlaufen. | |
Die „autogerechte Stadt“ sei damals [1][das Maß aller Dinge] gewesen und | |
die westdeutsche Politik habe neidisch auf die Mega-Highways von Los | |
Angeles geschielt, erinnert sich Norbert Rheinlaender. Er ist Vorsitzender | |
der 1974 gegründeten Bürgerinitiative Westtangente. „Wie zerstörerisch die | |
Planung mit der vom Krieg verschonten Stadt umging, konnte man in Steglitz | |
sehen. Das ließ Schlimmes für die übrigen Stadtgebiete befürchten“, erzä… | |
der Schöneberger. | |
## Erste Fahrraddemos in der 1970ern | |
Und so war die A 103 der Anstoß für die ersten Fahrraddemos auf dem | |
Kurfürstendamm Anfang der 70er-Jahre. Ihr Motto: „Gegen den Auto-Wahnsinn“. | |
Die Proteste wuchsen, und schließlich konnte der Weiterbau der Westtangente | |
verhindert werden. Der fossile Traum platzte, und von der Nord-Süd-Trasse | |
blieb nur das Stück in Steglitz. | |
Diese verkehrspolitische Altlast möchte die neue Bürgermeisterin von | |
Steglitz-Zehlendorf gerne loswerden. „Ein Rückbau der Autobahnen würde mit | |
einer großen Aufwertung der städtischen Umgebung einhergehen“, sagt Maren | |
Schellenberg (Grüne) der taz. „Beide Autobahnabschnitte teilen Wohngebiete. | |
Ihr Abbau könne Wohn- und Aufenthaltsqualität stark verbessern.“ | |
Etwa seit dem Bau der Autobahnen lag der Bezirk allerdings fest in | |
CDU-Hand. Die nun abgewählten Christdemokrat*innen hatten sich immer | |
klar gegen einen Rückbau der A 103 gestellt. Auch heute noch argumentiert | |
die Berliner CDU mit einem drohenden Verkehrschaos für die Umgebung: „Das | |
jetzige Straßenprofil ist gerade ausreichend, es gibt ja auch täglich | |
Stau“, mahnt etwa Oliver Friederici, verkehrspolitischer Sprecher der | |
CDU-Landesfraktion. Man solle daher die Autobahn nicht abreißen, sondern | |
bloß „einhausen“. | |
„Solche Bedenken werden immer ins Feld geführt, wenn Autoverkehr | |
eingeschränkt wird“, kontert Ragnhild Sørensen. Sie ist Sprecherin des | |
gemeinnütziges Vereins Changing Cities, der sich für eine nachhaltige | |
Stadtentwicklung einsetzt. Tatsächlich verhalte sich Autoverkehr eher wie | |
Wasser: „Wenn er aufgehalten wird, staut er sich zunächst. Mit der Zeit | |
aber versickert oder verdampft er und die Menschen finden andere Formen der | |
Fortbewegung.“ Diesen Effekt würden unzählige Studien belegen. „Wer Stra�… | |
baut, erntet Verkehr. Wer den Autoverkehr erschwert, reduziert ihn | |
langfristig“, resümiert Sørensen. | |
## Grüne sind vorsichtig | |
Doch auch die Grünen im Bezirk gehen die Verminderung des Autoaufkommens | |
deutlich vorsichtiger an. „Es darf bei einem Rückbau nicht zu einem Wegfall | |
einer Straßenverbindung kommen, zu Lasten der umliegenden Straßen“, so | |
Bezirksbürgermeisterin Schellenberg. Gerade die A 103 sei eine wichtige | |
Verkehrsader für Steglitz, müsse aber nicht den Charakter einer Autobahn | |
haben. Vorstellbar sei ein Umbau zu einer Straße mit Kreuzungen. | |
„Möglicherweise ist ein solcher Rückbau erst dann zu realisieren, wenn es | |
insgesamt in der gesamten Stadt zu einer deutlichen Reduzierung des | |
motorisierten Individualverkehrs gekommen ist.“ Auch die Grünen schrecken | |
demnach vor einer allzu abrupten Verkehrswende zurück. | |
Bei aller Angst um zukünftige Staus: Die Schattenseiten des Ist-Zustandes | |
sind nicht zu übersehen. In Steglitz überschreiten die | |
Stickoxidkonzentrationen regelmäßig den gesetzlichen Grenzwert von 200 | |
Mikrogramm pro Kubikmeter Luft – zuletzt am Nikolaustag. Lärm- und | |
Luftbelastung fallen umso mehr ins Gewicht, da sich im 100-Meter-Radius um | |
die Stadtautobahnen nicht weniger als elf Kitas, zwei Grundschulen und zwei | |
weiterführende Schulzentren befinden. Studien belegen, dass sich | |
verkehrsbedingte Luftverschmutzung auf Kinder besonders schädlich auswirkt. | |
In der grundsätzlichen Ablehnung der Autobahnen scheinen sich aktuell Land | |
und Bezirk einig zu sein. Laut neuem Koalitionsvertrag will man die | |
„Planung des schrittweisen Rückbaus der A 103 und A 104“ aufnehmen. Doch | |
was könnte an die Stelle der Asphaltpisten treten? Von Seiten des Bezirks | |
spricht Maren Schellenberg neben Grünflächen und Radverkehrsanlagen vor | |
allem von Wohnbebauung. Changing Cities geht das nicht weit genug. Sørensen | |
verweist auf das Berliner Klimaschutzgesetz: „Wenn Berlin seine | |
CO2-Emissionen um 70 Prozent bis 2030 reduzieren soll, muss man genau | |
solche Chancen ergreifen.“ Man solle den 3,7 Kilometer langen Streifen | |
nachhaltigeren Nutzungen zuführen. „Der Rückbau ist eine Chance, den | |
öffentlichen Raum wieder als etwas Verbindendes zu begreifen, als einen Ort | |
für Menschen und nicht für Autos.“ | |
## Zuständig ist der Bund | |
Doch bei allem Ideenreichtum stehen einem Rückbau noch einige Hürden im | |
Weg. Zum einen ist die Finanzierung ungeklärt. Allerdings hieße es bei den | |
zum Teil 50 Jahre alten Brücken und Tunneln bald ohnehin: sanieren oder | |
abreißen. Einige Brücken, wie etwa die der A 104 am Breitenbachplatz, | |
lassen gar aufgrund ihrer Bauweise nichts anderes als einen Abriss zu. | |
Vor allem aber liegt die A 103 derzeit noch im Zuständigkeitsbereich des | |
Bundes. Dieser müsste einer Herabstufung zur Landesstraße zustimmen, bevor | |
Berlin daran bauen darf. | |
Das letzte Wort zur Kiezautobahn von Steglitz ist also noch nicht | |
gesprochen. Dennoch: Die öffentliche Abkehr eines Bundeslandes von einer | |
Autobahn ist ein verkehrspolitischer Paradigmenwechsel. Das Verdikt über | |
die alte Westtangente gibt Protesten gegen den Highway-Wahn recht und | |
stellt eines unmissverständlich klar: Straßen können nicht nur wachsen, sie | |
dürfen auch schrumpfen. | |
Aber Moment: War da nicht noch etwas? Während im Westen alte Strecken auf | |
dem Prüfstand stehen, wächst [2][im Osten die A 100] munter weiter. Auch | |
wenn hier der Bund entscheidet: Zumindest gegen den 17. Bauabschnitt | |
Treptower Park/Storkower Straße könnte Berlin klagen. Noch weiter im Osten | |
baut Berlin unterdessen ganz allein. Die Tangentialverbindung Ost soll | |
hektarweise Wald verschlingen und kommt zunächst vor allem einem | |
Verkehrsmittel zugute: dem Pkw. | |
16 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Björn Brinkmann | |
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