# taz.de -- Die Wahrheit: Tragödie von opernhaftem Ausmaße | |
> Wenn Strafverteidiger auf ihr Leben zurückblicken, kann es schillernd | |
> werden. Wie im Fall des berühmten US-Verteidigers Peter DeBlasio. | |
Er war einer der bekanntesten Strafverteidiger in den USA. Kommenden | |
Samstag ist es ein Jahr her, dass Peter DeBlasio gestorben ist. Er wurde 91 | |
Jahre alt. Kurz vor seinem Tod legte er ein Geständnis ab: 45 Jahre zuvor | |
hatte er einem irischen Gangsterpaar zu einem Freispruch verholfen, obwohl | |
er wusste, dass deren Verteidigung auf einer völlig blödsinnigen Geschichte | |
beruhte. | |
Es war der 17. August 1975. 60 Polizisten stürmten in New York die Wohnung | |
des 37-jährigen Mel Patrick Lynch, der aus der irischen Grafschaft Offaly | |
stammte. Auf dem Sofa saß der „unrasierte, übelriechende, gefesselte und | |
mit einer Augenbinde versehene 21-jährige Erbe einer der reichsten | |
US-amerikanischen Familien“, schrieb damals Alex Traub in der New York | |
Times. Samuel Bronfman, dessen Vater die Seagram-Brennerei gehörte, war | |
neun Tage zuvor entführt worden. | |
Seitdem lauerten Reporter und Schaulustige vor dem Haus der Familie, zwei | |
Stände mit Eiscreme und Hot Dogs versorgten die Menge. Die Kidnapper hatten | |
2,3 Millionen Dollar Lösegeld verlangt. 100 FBI-Agenten beobachteten die | |
Geldübergabe. Dennoch gelang es Lynch zu entkommen. Dummerweise hatte er | |
sein eigenes Auto benutzt, sodass die Beamten seine Adresse hatten. | |
Um die Geisel nicht zu gefährden, parkte die Polizei um die Ecke – zufällig | |
vor dem Haus von Dominic Byrne, der ebenfalls aus Irland stammte und Lynchs | |
Komplize war. Er gab zur Überraschung der Polizei sofort auf. Der Fall | |
schien sonnenklar, zumal Lynch und Byrne Geständnisse ablegten. | |
## Gabe der Fabulierkunst | |
Doch vor Gericht wähnte sich der Staatsanwalt in einem schlechten Film. | |
Lynch behauptete, dass Bronfman die Entführung selbst geplant hatte. Er sei | |
Bronfmans Liebhaber gewesen, und der wollte seine Familie um ein paar | |
Millionen erleichtern. Er habe Lynch angeblich gedroht, ihn bei seinem | |
Arbeitgeber als schwul zu outen, falls er nicht mitspielte. | |
Die Geschworenen hörten Lynch, der über die irische Gabe der Fabulierkunst | |
verfügte, mit offenem Mund zu. „Er war der Arturo Toscanini unter den | |
Zeugen“, schrieb DeBlasio in seinen Memoiren. „Er verwandelte eine | |
Horrorgeschichte in eine Tragödie opernhaften Ausmaßes. Wäre es den | |
Geschworenen erlaubt gewesen, wären sie in Applaus ausgebrochen und hätten | |
nach einer Zugabe verlangt.“ | |
DeBlasio, der Byrne vertrat, wollte Lynch alles in die Schuhe schieben, um | |
seinen Mandanten zu entlasten, doch nach Lynchs Auftritt änderte er die | |
Taktik. Es gelang ihm erstaunlicherweise, die Geständnisse verschwinden zu | |
lassen, und er erklärte, dass es nie eine Entführung gegeben habe. Die | |
Angeklagten wurden freigesprochen. | |
Bronfman sah aus wie jemand, der einen Albtraum durchlebte, schrieb | |
daraufhin die New York Times. Niemand fragte nach seinem angeblichen Motiv. | |
Er hatte ja genug Geld. Das änderte sich, als sein Vater die Firma Seagram | |
nicht ihm, dem Erstgeborenen, sondern seinem jüngeren Bruder Edgar | |
überschrieb. | |
13 Dec 2021 | |
## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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