# taz.de -- Journalismus in Armenien: Zwischen Trauma und Verantwortung | |
> Der Krieg um Bergkarabach machte Journalisten des TV-Senders CivilNet | |
> unweigerlich zu Kriegsreportern. Bis heute prägt das ihre Arbeit. | |
Bild: Jerewan, Armenien: Trauermarsch für die im vergangenen Konflikt gestorbe… | |
JEREWAN taz | Ani Paitjan hatte keine großen Pläne für den 27. September | |
2020. Sie wollte sich von der anstrengenden Woche erholen und endlich zum | |
Friseur gehen. Stattdessen klingelte an diesem Sonntagmorgen ihr Handy: | |
„Der Krieg hat angefangen. Komm sofort in die Redaktion.“ Schnell zog sich | |
die 32-Jährige an und fuhr in das Büro von CivilNet, einem der | |
einflussreichsten unabhängigen Online-TV-Sender in Armenien. | |
Hier, im 9. Stock eines Gebäudekomplexes in der Innenstadt von Jerewan, | |
versammelte sich der Großteil des 45-köpfigen Redaktionsteams zur hektisch | |
einberufenen Krisensitzung. Binnen kürzester Zeit mussten Entscheidungen | |
gefällt werden. Das Verteidigungsministerium verlangte eine Liste mit den | |
Namen jener männlichen Mitarbeiter, die unverzichtbar sind für die | |
Produktion des Senders. Der Rest konnte jederzeit zum Militär eingezogen | |
werden. Auch darüber, welche Reporter ins Kriegsgebiet geschickt werden | |
sollen, wurde diskutiert. | |
Die Redaktion verfügte damals weder über schusssichere Westen noch über | |
Helme. Paitjan, die bis zu diesem Tag keine Erfahrung als Kriegsreporterin | |
hat, meldet sich freiwillig. „Für einen anderen Krieg hätte ich mein Leben | |
nicht riskiert“, erklärt sie heute ihren Entschluss. „Armenien ist mein | |
Land, und das Einzige, was ich in diesem Moment beitragen konnte, war meine | |
Arbeit als Journalistin.“ | |
Paitjan ist eine der Ersten, die auf Englisch aus [1][Bergkarabach] | |
berichtet, jener ethnischen Enklave in Aserbaidschan, in der seit | |
Jahrhunderten mehrheitlich christliche Armenier leben und wo sich eine | |
Vielzahl an armenischen Monumenten und Kirchen befindet. Um diese Region, | |
die heute knapp doppelt so groß wie das Saarland ist, entzündet sich seit | |
dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer wieder ein Konflikt zwischen den | |
beiden Nachbarländern im Südkaukasus. | |
„Bergkarabach ist Armenien“, verkündete der armenische Ministerpräsident | |
Nikol Paschinjan 2019 in einer Rede und sorgte laut manchem Beobachter | |
damit dafür, dass die Spannungen zwischen den beiden ehemaligen | |
Sowjetrepubliken erneut aufkeimten. Auf erste Ausschreitungen im Sommer | |
2020 an der Grenze beider Staaten folgte wenig später die von Aserbaidschan | |
gestartete Großoffensive Ende September. Deklariertes Ziel: die | |
Rückeroberung von Bergkarabach und der sieben von armenischen Truppen | |
kontrollierten Distrikte. „Wir haben alle erwartet, dass es einen Krieg | |
geben wird“, sagt Paitjan rückblickend. „Aber der Zeitpunkt hat uns kalt | |
erwischt.“ | |
## CivilNet berichtet ununterbrochen | |
Zehn Tage lang berichtet die CivilNet-Reporterin aus der Kriegsregion. Sie | |
interviewt Menschen, die gerade ihre Häuser verloren haben, Frauen, die | |
Brot an die armenischen Soldaten verteilen, und harrt mit der lokalen | |
Bevölkerung in Kellern aus. Ihre ersten TV-Berichte von damals [2][sind auf | |
Youtube zu sehen]: Verwackelte Bilder, das Donnern von Explosionen. | |
Tausende Soldaten fallen in den sechs Kriegswochen auf beiden Seiten, | |
Zehntausende Bewohner werden laut UNHCR vertrieben. | |
„Krieg hat nichts mit Heldentum zu tun“, sagt Paitjan. Nachdenklich sitzt | |
sie mehr als ein Jahr später im TV-Studio des Senders und versucht die | |
richtigen Worte zu finden, um das Erlebte zu beschreiben. „Krieg ist die | |
Hölle. Ein Zustand, in dem man leicht den Verstand verliert. Du schläfst | |
nicht. Dir ist schlecht. Deine Hände zittern, denn die Explosionen hören | |
einfach nicht auf. Und du weißt nicht, ob du wieder aufwachst, wenn du | |
einschläfst. Die einzige Möglichkeit, um dich abzulenken, besteht darin, | |
deinen Job zu machen, sonst gerätst du in Panik und das geht nicht. Du | |
kannst nicht selbst zum Opfer dieses Krieges werden, damit bringst du | |
andere in Gefahr. Also denkst du dir die ganze Zeit: Ich bin Journalistin.“ | |
CivilNet berichtet ununterbrochen, freie Tage gibt es bis zum Kriegsende | |
nicht mehr. Dabei kennt jeder in der Redaktion jemanden, der selbst kämpft, | |
gestorben oder geflohen ist. Doch während die Staatspropaganda ein Bild von | |
heldenhaften jungen Männern malt, die ihr christliches Land gegen den | |
Erzfeind Aserbaidschan verteidigen, telefoniert Chefredakteur Karen | |
Harutyunyan in diesen Tagen mit seinem verängstigten 18-jährigen Neffen, | |
der als Soldat mit Gleichaltrigen an der Front kämpft. | |
„Er befand sich unter Beschuss und fragte mich, ob er jemals wieder nach | |
Hause zurückkehren wird. Sie hatten keine Ahnung und nicht die Waffen und | |
Mittel, um sich dem Feind entgegenzustellen“, sagt Harutyunyan. | |
Seit 2011 ist er Chefredakteur von CivilNet und selbst Vater von zwei | |
Söhnen. Harutyunyan macht Regierungschef Paschinjan zu einem großen Teil | |
dafür verantwortlich, dass der Krieg ausbrach, nicht früher beendet wurde | |
und so viele junge Menschenleben kostete. „Paschinjan hat sich wie ein | |
Zocker verhalten. Jedes Mal, wenn er verloren hat, hat er den Einsatz | |
verdoppelt.“ | |
## Mindestens sieben Journalisten werden verletzt | |
Während des Krieges drängt die Regierung die armenischen Medien dazu, nur | |
offizielle Nachrichten zu verbreiten – optimistische Propaganda wie den | |
Slogan „Wir werden siegen“ –, selbst als es immer offensichtlicher wird, | |
dass Armenien den Krieg verliert. CivilNet widersetzt sich als eines der | |
wenigen Medien dieser Anweisung. | |
Damit kommt dem Sender, der vor zehn Jahren von einer gemeinnützigen | |
Stiftung gegründet wurde und neben Armenisch auch auf Russisch und Englisch | |
berichtet, eine besondere Rolle zu: als zuverlässige und unabhängige | |
Informationsquelle für internationale Beobachter. Außerdem arbeiten manche | |
CivilNet-Reporter wie Ani Paitjan nebenbei als sogenannte Fixer für | |
ausländische Korrespondenten. Ihre lokale Expertise ist unverzichtbar. Sie | |
teilen ihre Kontakte, ihr Wissen über die Region, die politische Lage und | |
den Konflikt mit den eilig eingeflogenen Kollegen, die oftmals weder das | |
Land noch die Sprache kennen. | |
Mindestens sieben Journalisten werden während der Kampfhandlungen in | |
Bergkarabach verletzt, darunter ein Reporter der französischen Zeitung Le | |
Monde. Er muss noch vor Ort notoperiert werden und wird anschließend | |
[3][per Helikopter ausgeflogen]. Wochen später erhält er einen Preis für | |
seine vorherige Berichterstattung [4][aus einem anderen Kriegsgebiet, | |
Syrien]. Die oft verbreitete Vorstellung von heroischen Kriegsreportern in | |
vielen westlichen Ländern, in denen kein Krieg herrscht, irritiert manche | |
lokalen Journalisten, die einfach nur ihren Job machen. | |
„Es gibt viele gute ausländische Journalisten, die in solchen | |
Kriegssituationen wichtige Arbeit leisten. Aber es gibt auch viele, denen | |
es nicht um die Opfer und das Land geht, sondern bloß um das eigene Ego und | |
ihren Status“, sagt Paitjan. Woher sie das wisse? „Sie decken die Folgen | |
des Krieges nicht ab“, sagt sie. | |
Am 10. November 2020 unterzeichneten Aserbaidschan, Armenien und Russland | |
[5][eine Waffenstillstandsvereinbarung], große Teile Bergkarabachs stehen | |
seitdem unter der Kontrolle Aserbaidschans. „Für internationale Medien ist | |
Armenien plötzlich keine ‚Story‘ mehr“, so Paitjan. Vor Kurzem hat Civil… | |
ein weiteres Büro in der Stadt Goris eröffnet, möchte noch stärker aus den | |
Regionen berichten und Kontakt zur lokalen Bevölkerung ausbauen. Paitjan: | |
„Unsere Aufgabe ist es nicht nur, die Verwüstung zu zeigen, sondern auch | |
diejenigen, die überlebt haben.“ | |
Transparenzhinweis: Daniela Prugger ist derzeit Gastredakteurin bei | |
CivilNet im Rahmen eines Marion-Gräfin-Dönhoff-Journalistenstipendiums. | |
13 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Konflikt-um-Bergkarabach/!5725932 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=Mim3fa7NUok | |
[3] https://twitter.com/vahram_mihl/status/1312114366167146497 | |
[4] https://www.rfi.fr/en/france/20201206-allan-kaval-wins-albert-londres-prize… | |
[5] /Nach-Krieg-um-Bergkarabach/!5749235 | |
## AUTOREN | |
Daniela Prugger | |
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