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# taz.de -- Kriegsverbrechen in Äthiopien: Der Krieg um den Krieg
> Ein Bericht der UN-Menschenrechtskommission geht Verbrechen in der
> Kriegsregion Tigray nach. Über sein Zustandekommen wird heftig
> gestritten.
Bild: Der Tigrayer Abrahaley Minasbo wurde Opfer regierungstreuer Amhara-Milize…
Als UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet am Mittwoch in Genf vor
die Presse trat, war sie bestrebt, ihre Unabhängigkeit zu betonen. Es ging
um ihren [1][Untersuchungsbericht zu Verbrechen in Äthiopien] seit dem
Beginn des Krieges um die Region Tigray im November 2020.
„Die Regierung hat uns nicht unter Druck gesetzt“, antwortete sie auf die
Frage, ob Äthiopiens Regierung – eine Kriegspartei – die Untersuchung
beeinflusst habe. Man habe im Bericht zwar „nicht ausdrücklich gesagt, dass
äthiopische Streitkräfte für die Mehrheit der Übergriffe verantwortlich
waren, aber es scheint, als sei das tatsächlich der Fall“, so die Chilenin
weiter, und: „Wir sind zuversichtlich, dass das Team eine erhebliche Menge
an Informationen zusammengetragen hat.“
Schon während dieser Pressekonferenz hagelte es kritische Nachfragen, nun
werden die Zweifel am Bericht, den die Seite Tigrays als ungenügend
ablehnt, immer konkreter. Der Vorwurf: Die Vereinten Nationen hätten sich
von Äthiopiens Regierung an der Nase herumführen lassen. Ein
schwerwiegender Vorwurf, denn dieser Bericht stellt jetzt auf
diplomatischer Ebene die Referenzquelle für Verbrechen im Tigray-Krieg dar.
Was hier steht, ist offiziell anerkannt; was nicht drinsteht, nicht.
Durchgeführt wurde die Untersuchung nicht von der UN allein, sondern von
einem gemeinsamen Team der [2][UN-Menschenrechtskommission (OHCHR)] und der
[3][Äthiopischen Menschenrechtskommission (EHRC)]. Die EHRC ist formell ein
unabhängiges Gremium, wird aber vom äthiopischen Parlament ernannt – in dem
nur Parteigänger der Regierung sitzen – und staatlich finanziert.
## Amnesty fordert Reform der EHRC
Die EHRC „dient den Interessen der äthiopischen Regierung“, kritisiert in
einer Stellungnahme der Tigray-Wissenschaftlerverband GSTS und verweist auf
öffentliche Äußerungen des EHRC-Chefs Daniel Bekele zugunsten des
militärischen Vorgehens der Regierung. Die Menschenrechtsorganisation
Amnesty International [4][forderte] schon 2019 eine grundlegende Reform der
EHRC, da diese „außerhalb etablierter Standards und Menschenrechtsrahmen
arbeitet, was Zweifel über ihre Methoden und Befunde aufwirft“.
Die Untersuchung zu Tigray geht auf eine Bitte um Zusammenarbeit zurück,
die der EHRC am 10. März 2021 an die UN richtete. Das OHCHR akzeptierte sie
zwei Tage später. Ein „Joint Investigation Team“ aus 39 Menschen entstand,
mit einer Doppelspitze und je sechs Ermittlern von EHCR und OHCHR, dazu
kommen Reservekräfte und Experten für Fachgebiete wie Forensik oder Gender
sowie acht Dolmetscher.
Einer der Dolmetscher war anfangs der lokale Journalist Michael Minassie.
Der ehemalige TV-Moderator in Tigrays Regionalfernsehen – mit
Medienerfahrung bei den UN-Blauhelmmissionen in Äthiopien und Südsudan –
war nach der [5][Einnahme von Tigrays Hauptstadt Mekelle] durch die
äthiopische Armee am 28. November 2020 abgetaucht. Minassie stand im
Verdacht, mutmaßlicher Sympathisant der Tigray-Machthaber zu sein, die
jetzt als Rebellen weiter kämpfen. Schließlich bewarb er sich für einen
Dolmetscherposten bei der Menschenrechtsuntersuchung in Tigray. Am 17. Mai
2021 nahm er seine Arbeit auf. Zehn Tage später wurde er wieder entlassen,
sagt er.
„Die UN sagte mir, die Teamleiterin habe meine Interviews als Journalist
mit Offiziellen der Tigray-Regionalregierung ausgegraben“, erzählt
Minassie, der heute als Asylbewerber in Deutschland lebt, der taz. „Sie
sagte mir, ich könne nicht unparteiisch sein.“ Er und ein anderer
Übersetzer aus Tigray verloren ihre Jobs. Die UN-Kommission habe alle
Mitarbeiter tigrayischen Ursprungs auf Wunsch der EHRC gefeuert, heißt es
in der Stellungnahme der Tigray-Wissenschaftler.
## Minassie: „EHRC fokussierte sich auf Nebensachen“
Minassie berichtet von seinen Einblicken in die Arbeitsmethoden der
Menschenrechtsuntersuchung, die damals Kriegsflüchtlinge in
Vertriebenenlagern in Mekelle besuchte: „Die Ermittler von UN und EHRC
gingen gemeinsam ins Feld: je einer, dazu ein Übersetzer“, berichtet er.
„Manchmal wurden sie von Sicherheitskräften in ziviler Kleidung begleitet.“
So konnten die Interviewpartner nicht frei reden, schätzt er.
Er gibt wieder, was ihm Lagerleiter erzählten, die er nach ihrem Termin mit
dem Team selbst befragte: „Es war wie ein Polizeiverhör. Sie versuchten,
Antworten vorwegzunehmen. Die UN versuchte, sich auf ihr Mandat zu
konzentrieren, Menschenrechtsverletzungen wie außergerichtliche
Hinrichtungen oder Gruppenvergewaltigungen, so was. Die EHRC aber
fokussierte Nebensachen wie das Management von Vertriebenenlagern. Sie
wollten die Aufmerksamkeit ablenken.“
Von vierzig Orten, die das Team laut Mandat besuchen sollte, habe es nur
zwölf tatsächlich aufsuchen können. Wichtige Orte von Massakern blieben
außen vor, wie der Bericht bestätigt. Es wurden nur Menschen in Gebieten
unter äthiopischer Regierungskontrolle befragt – keine Tigray-Flüchtlinge
in Sudan, keine Tigray-Binnenvertriebenen. Auch ein angefragtes Treffen mit
den Tigray-Rebellen kam wegen der Präsenz der EHRC nicht zustande.
Der Bericht führt aus, die äthiopischen Behörden hätten Reisegenehmigungen
verweigert und sichere Satellitentelefone nicht freigegeben. Ende September
2021 warf Äthiopiens Regierung sogar den Monitoring-Leiter des OHCHR-Büros
in Addis Abeba, Sonny Onyegbula, wegen „Einmischung in innere
Angelegenheiten“ aus dem Land. Er war damit beschäftigt, den
Untersuchungsbericht zu schreiben.
## Redet die UN-Untersuchung Verbrechen klein?
Der Bericht listet dennoch zahlreiche Verbrechen durch
Regierungsstreitkräfte auf. Doch Kritiker verweisen auf Unstimmigkeiten.
„Das gemeinsame Team reiste nach Humera, wo Recherchen von CNN und des
Telegraph improvisierte Haftanstalten für Tausende, Folter und brutale
Tötungen aufdeckten. Es ist schockierend, dass die Untersuchung das
weglässt“, schreibt auf Twitter der Al-Jazeera-Journalist Zecharias
Zelalem.
Humera wurde von Eritreas Armee beschossen, als diese im Bündnis mit
Äthiopiens Armee gegen die Tigray-Rebellen kämpfte. Besonders untertrieben
findet Zelalem den Befund, der Krieg habe Tigrays Gesundheitssektor
„erheblich in Mitleidenschaft gezogen“. Er merkt an: „Laut Ärzte ohne
Grenzen waren bis März nur 13 Prozent aller Gesundheitseinrichtungen in
Tigray nicht zerstört oder von Soldaten besetzt.“
Redet die UN-Untersuchung Verbrechen klein? Äthiopiens Regierung zeigte
sich nach der Veröffentlichung zufrieden und behauptete, der Bericht habe
den Vorwurf des Völkermordes an Tigrayern entkräftet. Michelle Bachelet
wies in ihrer Reaktion darauf hin, dass dies aber gar nicht das Thema
gewesen sei: „Intention und Ausmaß ethnischer Verbrechen“ müssten erst no…
untersucht werden. Mit anderen Worten: Die heikelsten Fragen bleiben
unbeantwortet.
„Ich war Zeuge dieser Greueltaten in den Bergen, wo ich zwei Monate
verbrachte: Drohnenangriffe; zielloser Artilleriebeschuss; Menschen, die
von Klippen geworfen werden“, sagt Michael Minassie, „Es ist ein sehr
kontroverses Thema, aber ich glaube, dass in Tigray Völkermord verübt
wurde.“
5 Nov 2021
## LINKS
[1] https://www.ohchr.org/Documents/Countries/ET/OHCHR-EHRC-Tigray-Report.pdf
[2] https://www.ohchr.org/EN/pages/home.aspx
[3] https://ehrc.org/
[4] https://www.amnesty.org/en/latest/press-release/2019/06/ethiopia-human-righ…
[5] /Kampfhandlungen-in-Aethiopien/!5728676
## AUTOREN
Dominic Johnson
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