# taz.de -- Krieg in Äthiopien: Im Ausnahmeszustand | |
> Äthiopiens Tigray-Rebellen rücken auf Addis Abeba vor. Dort gibt sich | |
> Premier Abiy Ahmed Sondervollmachten und will den Feind davonjagen. | |
Bild: Leere Straßen am 2. November 2021: Addis Ababa im Ausnahmezustand | |
BERLIN taz | „Alle meine tigrayischen Nachbarn werden jetzt mitgenommen“, | |
lautet die Twitter-Nachricht von „Lionheart“ aus Äthiopiens Hauptstadt | |
Addis Abeba am Mittwochnachmittag. „Ich bin der Nächste. Tschüss, meine | |
Lieben. Bitte seid unsere Stimme. Wir sehen uns nach dem Sieg, hoffe ich.“ | |
In anderen Chats in den sozialen Medien raten sich Tigrayer in der | |
äthiopischen Hauptstadt gegenseitig, ihre Telefone möglichst von | |
kompromittierenden Inhalten zu säubern, bevor sie beschlagnahmt werden. Ein | |
anderer User hält dagegen: „Wir werden alle dreckigen Tigray-Schlangen | |
wegputzen, ihr seid alle gleich.“ | |
Eine [1][brutale Endzeitstimmung] scheint zumindest in Teilen der | |
Fünf-Millionen-Metropole Addis Abeba aufzukommen, seit Tigrays Rebellen von | |
Norden aus immer näherrücken. Die Einnahme der jeweils eine halbe Million | |
Menschen zählenden Städte Dessie und Kombolcha, 400 Kilometer nördlich, | |
durch die Rebellen der TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) am vergangenen | |
Wochenende scheint nicht nur militärisch, sondern auch psychologisch ein | |
Wendepunkt gewesen zu sein. | |
Dessie und Kombolcha sind zwei wichtige Verkehrsknotenpunkte tief in der | |
Region Amhara. Die dortigen Behörden sind besonders radikal gegen Tigray | |
eingestellt, dessen Territorium sie zum Teil beanspruchen. Sie wollten mit | |
Jugendmilizen und einer allgemeinen Mobilmachung die Stellung gegen die | |
TPLF halten. Doch dies gelang nicht – als Nächstes könnten die Rebellen die | |
wichtigsten Fernverkehrswege Äthiopiens abschneiden, die [2][Addis Abeba] | |
mit Dschibuti am Roten Meer verbinden. | |
## Berichte über Massenverhaftungen häufen sich | |
Zugleich regen sich nahe Addis Abeba Rebellen des Oromo-Volkes, die in der | |
OLA (Oromo-Befreiungsarmee) organisiert sind – eine alte | |
Guerillaorganisation, die jetzt durch TPLF-Hilfe zu neuem Leben erweckt | |
wird. OLA-Truppen beherrschen Teile der Region Oromia rings um Addis Abeba | |
und könnten jederzeit weitere Straßenverbindungen kappen. Die Hauptstadt | |
soll belagert werden, um die dortige Regierung zum Einlenken zu zwingen, | |
damit sie die Hungerblockade Tigrays und die Hetze gegen Tigrayer beendet. | |
Die Regierung aber denkt überhaupt nicht daran. Am Dienstag verhängte sie | |
den Ausnahmezustand über das 120 Millionen Einwohner zählende Äthiopien. | |
Ministerpräsident Abiy Ahmed bekommt somit unbeschränkte Vollmachten: Eine | |
neue Kommandozentrale der Streitkräfte, die Abiy Ahmed untersteht, kann ab | |
sofort alle Verwaltungseinheiten suspendieren, alle Bürger ohne | |
Gerichtsbeschluss verhaften, alle Erwachsenen zum Militärdienst abholen, | |
alle Kommunikations- und Verkehrswege sperren, alle Medien und | |
Organisationen verbieten. Weiter heißt es: „Gegen die Ziele der | |
Kommandozentrale zu sein ist verboten.“ | |
Seitdem häufen sich Berichte über Massenverhaftungen von Tigrayern in Addis | |
Abeba. Bewaffnete gehen von Tür zu Tür: Tagelöhner, Soldaten, | |
Geschäftsleute, sogar Mönche werden verschleppt. Ihre Freunde befürchten | |
das Schlimmste. Die Warnung „Tigray Genocide“ macht die Runde. Der | |
Äthiopien-Forscher René Lefort hat Hassreden von Regierungsanhängern | |
gesammelt, vor allem von Scharfmachern der Region Amhara: „Man muss | |
Tigrayer, auch solche ohne TPLF-Verbindung, in Konzentrationslagern | |
sammeln“, lautet eine. „Reißt die Disteln aus, auch wenn euch das traurig | |
macht“, eine andere. | |
Abiy Ahmed selbst hielt am Mittwoch, genau ein Jahr nach Beginn des Krieges | |
zwischen Äthiopiens Zentralregierung und der damals noch von der TPLF | |
gestellten Tigray-Regionalregierung, eine finstere Rede vor seinen | |
Generälen. „Wir werden den Feind mit unserem Blut begraben“, sagte er der | |
Nachrichtenagentur Reuters zufolge. „Die Grube wird sehr tief sein.“ | |
## Gewinnen kann Abiy Ahmed die Konfrontation nicht mehr | |
Die Kriegshetze und Untergangsstimmung macht vielen Äthiopiern Angst. | |
Unbestätigten Berichten zufolge sind die Flüge aus der äthiopischen | |
Hauptstadt ins Ausland voll. Die US-Botschaft hat ihre Bürger zum Verlassen | |
des Landes aufgefordert. Einigen Berichten zufolge wird bereits der Abgang | |
Abiy Ahmeds ins Exil sondiert. Die Alternative, so fürchten Beobachter von | |
beiden Seiten: Häuserkämpfe in Addis Abeba und blutige ethnische Massaker, | |
so [3][wie sie den Krieg im Norden des Landes schon seit einem Jahr | |
kennzeichnen] – mit Gräueltaten auf beiden Seiten. | |
Gewinnen kann [4][Abiy Ahmed] die militärische Konfrontation nicht mehr. | |
Die TPLF ist eine der ältesten und erfolgreichsten Rebellenarmeen der Welt. | |
1991 rückte sie schon einmal als Guerilla aus den Bergen Tigrays bis nach | |
Addis Abeba vor. Der kommunistische Militärdiktator Mengistu Haile Mariam, | |
der Äthiopien mit Zwangskollektivierung in eine verheerende Hungersnot | |
getrieben hatte, floh. | |
Die TPLF übernahm die Macht an der Spitze einer föderalen Staatspartei, der | |
„Revolutionären Demokratischen Front der Äthiopischen Völker“ (EPRDF). D… | |
EPRDF-Regime wurde selbst zur Diktatur, mit der TPLF am Kern. Nach | |
mehrjährigen Massenprotesten rückte im April 2018 EPRDF-Minister Abiy Ahmed | |
von der historisch marginalisierten Oromo-Volksgruppe in das Amt des | |
Ministerpräsidenten. Er startete spektakuläre Reformen: Öffnung der | |
Gefängnisse, Freiheitsrechte, Frieden mit Eritrea, gekrönt 2019 durch den | |
Friedensnobelpreis. | |
Danach ging es bergab. Abiy Ahmed löste die EPRDF auf und ersetzte sie | |
durch die „Wohlstandspartei“ (PP) unter seiner alleinigen Führung. Die alte | |
Garde der TPLF machte nicht mit. Sie brach mit Abiy und ließ sich durch | |
eigene Wahlen in Tigray an der Macht bestätigen. Als Abiy Ahmed das nicht | |
akzeptierte, kam es Anfang November 2020 zum Krieg. | |
Jedoch haben die TPLF-Generäle, der historische Kern der äthiopischen | |
Streitkräfte, die meisten Waffen und die meiste Erfahrung, während Abiy | |
Ahmed nur die Mobilisierung des Volkes gegen die „TPLF-Clique“ bleibt. Und | |
da die EPRDF nicht mehr existiert, gibt es keine politische Struktur mehr, | |
die Abiy Ahmed geräuschlos durch eine gemäßigtere Figur ersetzen könnte, | |
die einen Waffenstillstand aushandeln und politische Gespräche starten | |
könnte. | |
## Die alten Tigray-Generäle sind keine Volkslieblinge | |
Dabei gäbe es Alternativen zu dem gescheiterten Friedensnobelpreisträger. | |
Der populäre Oromo-Medienunternehmer Jawar Mohammed, einst einer der | |
wichtigsten Unterstützer Abiys, aber seit 2020 unter Terroranklage in Haft, | |
könnte eine wichtige Rolle spielen. Auch das Amt des Staatsoberhaupts wird | |
bei einem Friedensprozess automatisch wichtig: Derzeit hält es die | |
Diplomatin Sahle-Work Zewde, gekürt 2018. | |
Auch die TPLF weiß, dass sie nicht einfach in Addis Abeba regieren kann. | |
Die alten Tigray-Generäle, die jahrzehntelang Äthiopien kujonierten, sind | |
keine Volkslieblinge. Sie können höchstens als Türöffner mit der Waffe | |
einen neuen Reformprozess für Äthiopien in Gang setzen. Ob das geht, hängt | |
von den Scharfmachern auf beiden Seiten ab. | |
3 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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