# taz.de -- Debatte um Identitätspolitik: Deal with it | |
> „Bürgerliche Medien“ bekommen wegen deren Debatte zur Identitätspolitik | |
> den Negativpreis „Goldene Kartoffel“ – auch die taz. | |
Bild: Auf der „Silent-Demo“ gegen Rassismus im vergangenen Jahr in Berlin | |
In Jörg Fausers Roman „Rohstoff“ bekommt der rebellische Jungdichter Harry | |
Gelb Anfang der 1970er Jahre in Frankfurt am Main einen lukrativen | |
Schreibauftrag. Er soll für das neu eröffnete Musikcafé Zero ein | |
„Kommuniqué“ verfassen, „die Leute müssen wissen, dass es uns gibt“. | |
Harry macht sich an die Arbeit, das Resultat enttäuscht aber seine | |
Auftraggeber. „Oh nein, oh nein, das ist viel zu politisch.“ Und: „Warum | |
bist du denn so aggressiv, Harry? Willst du, dass die Stadt uns zumacht?“ | |
Da fällt bei Harry der Groschen, und er schreibt noch mal neu unter dem von | |
Timothy Leary geliehenen Titel „Die Revolution ist vorbei – Wir haben | |
gewonnen“. Dafür bekommt er Lob und einen doppelten Bacardi. | |
Es gehört zu den Eigenheiten der 68er-Revolte, dass sie von ihren Zielen | |
praktisch alle erreicht hat, nur nicht das, womit sie zentral angetreten | |
war: die Überwindung des Kapitalismus beziehungsweise des bürgerlichen | |
Schweinesystems. Dass wir heute mit den zahlreichen identitätspolitischen | |
Bewegungen von MeToo bis Black Lives Matter ein neues 68 erleben, ist | |
[1][inzwischen so oft gesagt worden,] dass wir vielleicht noch mal drüber | |
nachdenken sollten, [2][was an dieser Analogie wirklich stimmt]. | |
Tatsache ist, dass sich die westlichen Gesellschaften in den letzten Jahren | |
zumindest in ihrer Rhetorik und in der Auswahl der Themen, die überhaupt | |
öffentlich verhandelt werden, so sehr verändert haben, dass [3][den alten | |
weißen Männern (AWM)] – die selbstverständlich weder Männer noch weiß, n… | |
alt sein müssen – tatsächlich nichts mehr einfällt, als etwa die | |
stockstrukturkonservative Bundesrepublik [4][einen „neuen | |
DDR-Obrigkeitsstaat“ zu nennen]. | |
Bei Freddy Quinn war 1966 der Inhalt seines [5][Antijugendgassenhauers | |
„Wir“] zwar genauso dumpf wie Mathias Döpfners aktuelle Einlassungen, aber | |
es klang wenigstens schön. Die smarteren AWMs hingegen fordern heute wie | |
einst zum Dialog mit der rebellischen Jugend auf und warnen vor der | |
Spaltung der Gesellschaft. Damit warnen sie vor nichts anderem als vor | |
Politik selbst. Deren Kern ist Spaltung, das Sezieren von Interessen und | |
Machtverhältnissen sowie der Kampf für ein besseres und gerechtes Leben für | |
alle. Wer vorwurfsvoll von Spaltung der Gesellschaft redet, outet sich also | |
als konservativ; und wie ließe sich das seit jeher besser verbergen als | |
dadurch, dass man sich selbst als letzten wahren Linken abfeierte? | |
Den Beharrungswillen, der der anti-identitätspolitischen Warnung vor | |
gesellschaftlicher Spaltung innewohnt, [6][hat die US-Autorin Joan Didion | |
bereits 1992 analysiert;] Bill Clintons damals verkündetes „Bekenntnis zur | |
Mitte“ schließe laut Didion die Absage ein, die Interessen der Armen und | |
der Minderheiten zu vertreten, wie es sehr lang Kernaufgabe der Demokraten | |
gewesen sei. | |
Aber Deutschland ist langsam und Provinz, kein todbringender Dieselskandal | |
und kein Bunga-Bunga bei Springer wird hierzulande aufgedeckt ohne die | |
Hilfe des amerikanischen Freundes – und da haben wir von der Befreiung vom | |
Faschismus noch gar nicht gesprochen. „Kein Wort“, schreibt Didion, sei auf | |
dem Parteitag der Demokraten über diese ehemalige Kernwählerschaft verloren | |
worden; so wie bei den aktuellen Gesprächen zur Regierungsbildung in | |
Deutschland kein Wort verloren wurde über den Kampf gegen Rassismus, | |
bewaffneten Rechtsextremismus und Polizeigewalt. | |
Bei der Mehrheitsfindung spielen diese Themen keine Rolle; so, wie es für | |
die Mehrheit keine Rolle spielt, dass [7][die Schriftstellerin Jasmina | |
Kuhnke] nicht auf die Buchmesse kommen kann, weil sie dort Nazis bedrohen. | |
Klar, ein paar Autorinnen solidarisieren sich mit ihr, aber der Betrieb | |
läuft ungerührt weiter. Wer mit sexualisierter Gewalt konfrontiert ist, | |
bekam von der anti-identitätspolitischen Internationalen einst den Rat: | |
Dann mach doch die Bluse zu. Wer sich einer spezifisch rassistischen | |
Bedrohung nicht aussetzen möchte, der wird gesagt: Dein Problem. | |
Das ist nicht ausschließlich schlecht – auch weil es vielleicht tatsächlich | |
andere, kollektive Widerstandsformen zu etablieren gälte. Vor allem aber | |
ist es die Realität. Die identitätspolitische Bewegung ist, wie die Revolte | |
von 68, eine Jugend- und Elitebewegung. Allerdings waren die 68er als | |
geburtenstarke Jahrgänge viele, die antirassistische, queerfeminstische, | |
antiautoritäre Generation heute ist schon [8][den nackten Zahlen nach in | |
der Minderheit.] Sie lebt und agiert unter der Herrschaft der Boomer und | |
Alten. | |
Wenn nun neben anderen „bürgerlichen Medien“ auch die taz die [9][Goldene | |
Kartoffel 2021] „für die unterirdische Debatte über ‚Identitätspolitik�… | |
bekam, dann mussten die den Preis vergebenden Neuen deutschen | |
Medienmacher*innen zwar einiges an Texten, die in der taz in den | |
letzten Jahren erschienen sind, ausblenden – aber Recht haben sie trotzdem: | |
Der Diskurs, der sich von den immer gleichen, tendenziell allerdings | |
aggressiver werdenden AWM-Tiraden absetzt, hat offensichtlich das Bild nach | |
außen nicht geprägt. Das ist die Lage – deal with it. | |
Im Deutschlandfunk wird gegendert, Konzerne geben sich divers und handeln | |
oft sogar so, die Fenster sind wenigstens gekippt worden. Aber der erste | |
große Impuls der emanzipatorischen Bewegung hat an Power verloren und | |
trudelt jetzt wie ein Ballon durch eine gewohnt stickige Atmosphäre. Bei | |
den 68ern endete die Selbsttäuschung mit der Integration in die | |
sozialliberale Epoche, oft genug aber auch in Verzweiflung oder | |
narzisstischem Terror. Doch die Geschichte muss sich nicht wiederholen. Wie | |
Harry Gelb am Ende von „Rohstoff“, in die Gosse geworfen, resümiert: „We… | |
das so ist, dachte ich, kannst du auch aufstehen.“ | |
21 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-Political-Correctness/!5489158 | |
[2] https://www.deutschlandfunkkultur.de/johanna-adorjan-ciao-komik-fuer-die-ve… | |
[3] /Vielfalt-in-Deutschland/!5804020 | |
[4] /Krise-des-Springer-Verlags/!5809906 | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=4toCZmzILIs | |
[6] https://www.deutschlandfunkkultur.de/joan-didion-sentimentale-reisen-gestoc… | |
[7] /Rechte-Verlage-auf-der-Buchmesse/!5806032 | |
[8] https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deut… | |
[9] https://neuemedienmacher.de/goldene-kartoffel/beitrag/goldene-kartoffel-202… | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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