# taz.de -- Berliner Markthalle Neun wird zehn: Konsum im Kreuzberger Kiez | |
> Doppelfeier in Kreuzberg: Vor 130 Jahren eröffneten die städtischen | |
> Markthallen. Die Markthalle Neun feiert zudem ihr zehnjähriges Bestehen. | |
Bild: Rappelvoll: Die Markthalle Neun im Jahr 2019 | |
BERLIN taz | In der Kreuzberger Eisenbahnstraße steht am 1. Oktober ein | |
Doppelgeburtstag an: 130 Jahre städtische Markthalle und zehn Jahre | |
runderneuerte „Markthalle Neun“. 1891 öffnete an diesem Tag der preußische | |
Backsteinbau erstmals seine Tore, eine von insgesamt 14 in der | |
aufstrebenden Reichshaupstadt – damals eine Innovation in der städtischen | |
Lebensmittelversorgung. | |
Der Arzt und Sozialreformer Rudolf Virchow hatte für den Senat ein Konzept | |
entwickelt, um die katastrophalen Hygienezustände auf den Wochenmärkten zu | |
beenden. Freie Händler sollten ihr Fleisch und Gemüse nur noch in Hallen | |
anbieten können, witterungsgeschützt und von der Lebensmittelkontrolle | |
beaufsichtigt. | |
Mit dem Wandel im Handel, vor allem dem Vordringen der Supermärkte, hatte | |
sich der Ansatz später dann fast schon erledigt, und 2011 war aus der | |
Kreuzberger Markthalle nur noch eine Resterampe für Billiganbieter | |
geworden, die der kommunale Träger loswerden wollte. | |
„Die Existenz der Markthalle Neun in der jetzigen Form ist alles andere als | |
selbstverständlich“, erinnert sich Florian Niedermeier vom privaten | |
Betreibertrio, das 2011 die Halle übernahm. Mit Unterstützung der | |
Anwohnerschaft und „entgegen der damaligen Vergabepraxis von Liegenschaften | |
in Berlin“ gelang es seinerzeit, die Umwandlung in ein Supermarktcenter | |
abzuwenden. | |
## Tofurei und Brauerei | |
Das Konzept der Markthalle Neun hatte zum Ziel, ein Anders-Essen und | |
Anders-Einkaufen in der Stadt möglich zu machen. Und zwar – das war neu – | |
im Rahmen einer breiter gedachten Agrar- und Ernährungswende. „Im | |
respektvollem Umgang mit Mensch, Tier und Umwelt, regional- und | |
saisonalbetont, verbunden mit lokaler Wertschöpfung, transparent und | |
vertrauensvoll“, so lautet seitdem das Selbstverständnis der | |
Markthallenbetreiber und der Händler. | |
„Eine gläserne Bäckerei und Metzgerei, eine kleine hauseigene Brauerei, | |
eine Tofurei und eine Kantine, bei der man den Köchen über die Schulter | |
schauen kann, holen die Herstellung von Lebensmittel aus der Anonymität | |
heraus und zurück ins städtische Umfeld“, heißt es in der | |
Selbstdarstellung. | |
Besonders mit seinem „Street Food Thursday“, den wechselnden Themenmärkten | |
zu Naschwerk, Käse und Kürbissen bis hin zum großen „Stadt, Land, | |
Food“-Festival wurde die Kreuzberger Location zum Impulsgeber für die | |
wachsende Berliner Foodie-Szene, die mittlerweile über die Grenzen der | |
Stadt hinaus Beachtung gefunden hat. | |
Allerdings sorgte der starke Zustrom auswärtiger Gourmet-Freunde auch – das | |
war so nicht geplant – für Knatsch im Kiez. Von schleichender | |
Gentrifizierung war die Rede, eine Anwohnerinitiative [1][organisierte | |
sogar Demos vor der Markthalle] für den Erhalt der Aldi-Filiale mit seinen | |
Discount-Angeboten – nur so bleibe sie eine „Halle für alle“ und nicht n… | |
für die Besserbetuchten. | |
Der Konflikt kratzte am Image der Markthalle Neun und zehrte an den Nerven | |
der Betreiber, wie Niedermeier einräumt. Der Streit wurde auch in die | |
Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg getragen, was zu | |
einem Dialogverfahren und einer [2][ausführlichen Bürgerbefragung im | |
Auftrag des Bezirks] führte. | |
Häufig wurde von den über 500 Befragten angegeben, dass ihnen die | |
Stichpunkte Regional, Bio und Nachhaltigkeit in ihrem Ernährungsverhalten | |
wichtig seien. „Ziel der Ernährungswende ist es, allen Konsument*innen | |
leistbare Produkte zugänglich zu machen“, fasste der Bezirk das Ergebnis | |
der Aktion zusammen. | |
## Offene Orte | |
Das Bezirksamt wolle „für dieses Thema Verantwortung übernehmen und | |
Friedrichshain-Kreuzberg als Modellbezirk entwickeln“, wurde im Dezember | |
2020 mitgeteilt. Als erste Maßnahme wurde die Gründung eines | |
verwaltungsinternen Ernährungswenderates auf die Agenda gesetzt. | |
Eine „Road Map für eine nachhaltige Ernährungsstrategie im Bezirk | |
entwickeln und diese in die Diskussion einbringen“, lautet der Kurs des | |
Bezirksamts. In der Markthalle Neun soll dazu ein „LebensMittelPunkt“ nach | |
dem Konzept [3][des Berliner Ernährungsrates] entstehen. An diesen offenen | |
Orten, so die Beschreibung des Ernährungsrates, werden „überwiegend | |
regionale, hochwertige Nahrungsmittel verarbeitet, gekocht und gegessen“. | |
Erste LebensMittelPunkte gibt es bereits in Lichtenberg und im ehemaligen | |
Haus der Statistik am Alexanderplatz. | |
1 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Gentrifizierung-in-Berlin/!5762388 | |
[2] /Markthalle-Neun-in-Kreuzberg/!5651145 | |
[3] /Ernaehrungswende-in-Berlin/!5759069 | |
## AUTOREN | |
Manfred Ronzheimer | |
## TAGS | |
Sauerteig | |
Käse | |
Gourmet | |
Gentrifizierung | |
Ernährung | |
Berlin-Kreuzberg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |