Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Tagebuch des taz-Wahlcamps: Lotta macht sich Gedanken
> Ein Gespenst geht um bei den Linken – das Gespenst der Nostalgie. Eine
> richtige Studentin ist links, liest Marx und kämpft für das Gute.
Bild: „Soziale Ungleichheit ausgleichen, ist genau das, was wir brauchen.“
Eine richtige Studentin ist links. Als Studentin nimmt man am marxistischen
Lesekreis teil, geht auf Demos, hasst die Nazis und die Burschis. Als
richtige Studentin hört man Ton Steine Scherben und im Wohnzimmer hängt
Che, manchmal auch Luxemburg. Auch heute noch – falls man zu den
„Richtigen“ gehört. Das weiß auch Lotta, wenn sie sich im Eingang des
Philosophischen Seminars eine Tüte dreht und über Trotzki diskutiert.
„Der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird“,
singt sie in ihrer teuren Altbau-WG zusammen mit Rio Reiser.
Eine bequeme moralistische Widerstandsposition sei es, die die linke
Bewegung seit Jahrzehnten einnehme, hat sie mal in einem Seminar über
Slavoj Žižek gehört. Man schwelge in einer Was-wäre-wenn-Nostalgie. Träume
von einer Utopie, einem sozialistischen Paradies, das niemals war. „Warum
nicht?“, dachte sich Lotta. Sie kämpft ja für das Richtige.
Denn wird sie etwa nicht kommen, die uns von Marx versprochene
Weltrevolution? Schritt für Schritt ins Paradies? Ist nicht die Hauptsache,
man verrät sich nicht an das Establishment? Wenn man wählen muss, dann
höchstens links.
## Junge linke Realpolitiker:innen
Treptower Park. Die Ortsgruppe der jungen Linken aus Treptow-Köpenick macht
Wahlkampf mit Gysi auf ihren Plakaten. Ein älterer Mann läuft vorbei, hält
kurz inne und schreit: „Scheiß Stasi-Partei! Ich will mit euch nichts mehr
zu tun haben.“ Keiner der jungen Leute hier hat die DDR je erlebt. Einer
der jungen Linken trägt einen roten Stern auf seinem T-Shirt. Manchmal
kämen auch ältere Leute zu ihnen, die interessiert daran seien, was sie
denn „heutzutage“ mache, ihre Partei.
Die SED gehöre zur Vergangenheit, die Jugend trage Verantwortung, es besser
zu machen, meinen sie. Ihr Ziel: demokratischer Sozialismus als die neue
Gesellschaftsform. Das überzeugt Lotta. Das System von innen verändern.
Regieren gerne, auch mit der SPD. Da wird sie skeptisch. Auf die Frage,
warum denn nicht mehr Arbeiter:innen links wählen würden, bekommt sie
keine Antwort.
Dass der Sozialismus so einen schlechten Ruf hat, findet Lotta generell
doof. Auch sie weiß ja, dass die DDR „schon sehr schlimm“ war, aber was war
mit den kostenlosen Kita-Plätzen? Geschlechtergleichheit? Und eigentlich
wäre es ja ganz gut, wenn die „Linke“ mal mitregieren würde, es sei denn,
man muss Kompromisse zu bestimmten Themen eingehen, keine Abschiebung,
Auslandseinsätze, Sozialabbau, … dann doch lieber nicht.
Auch macht sich Lotta Gedanken darüber, welchen Splittergruppen innerhalb
der linken Bewegung sie angehört: Da gibt es Trotzkisten, Marxisten,
Anarchisten, Kommunisten, autonome Linke, die nicht mal links, sondern
lieber gar nicht wählen. Sie will sich richtig positionieren als Erbin von
Marx und Engels. Da haben konkrete Fragen über die Zukunft der Menschheit
noch Zeit.
## Keine Koalition mit den Kommunisten
Denn wer wie links ist, beschäftigt nicht nur Lotta, sondern auch die
Nicht-Linken. So begann das zweite Triell zur Bundestagswahl mit der Frage,
die die pflichtbewussten, ordentlichen Bürger:innen am stärksten
beschäftigt und ihnen am meisten Angst macht. Denn angesichts von
Klimakrise, Wohnungsnot und Coronapandemie ist doch das, was ihnen nachts
wirklich den Schlaf raubt, die Frage, ob denn die nächste Regierung
womöglich mit der „Linken“ koalieren würde.
Und keine der großen Parteien beantwortete sie mit einem klaren Ja. Angst
vor den „Kommunisten“ stand im Raum. Und ein erleichterndes Aufatmen aller
Linken durch die Republik. Mit solchen korrumpierten Parteien möchte man
doch sowieso nicht kooperieren. Lotta fühlt sich bestätigt.
Es fühlt sich so gut an, zu wissen, dass man auf der Seite der „Guten“
steht, der Unterdrückten. Auch wenn man eine gutgestellte Studentin ist.
Auch, wenn man praktisch allein dasteht. Denn die Arbeiter:innen werden
sich nicht vereinigen. Sie wählen nicht einmal links.
Und man kann noch so viel Marx lesen und verstehen und ihm Recht geben (und
ja, er hat auch in vielem Recht). Es ist eben nicht mehr die Zeit, in der
die Fabrikarbeiter:innen die Herrschaft übernehmen werden. Weil die
meisten Fabriken gar nicht mehr in Deutschland sind. Es ist nicht mehr
zeitgemäß, auf diese Art den Kapitalismus überwinden zu wollen.
Es tut gut, im schwarzen Block mit den anderen Studierenden die
Internationale zu singen. Am 8. Mai auf die Rote Armee trinken, fühlt sich
fast so an, als hätte man selbst die Nazis besiegt.
## Nostalgie löst keine Probleme
Doch das löst nicht die Probleme, die wir haben, liebe Lotta. Löst nicht
den strukturellen Rassismus in der Polizei, rettet keine Ertrinkenden aus
dem Mittelmeer und ändert nichts daran, dass der Staat aus Steuermitteln
jährlich rund eine halbe Milliarde Euro an die evangelische und katholische
Kirche zahlt. Es ändert auch wenig daran, dass der freie Markt die Armen
immer ärmer werden lässt und die Reichen immer reicher. Dass Lobbyisten die
politischen Entscheidungen beeinflussen. Dass die Republik Kriege führt und
zulässt, Geld mit Waffenexporte an Länder wie Saudi-Arabien verdient, dass
Menschen unter schlimmsten Bedingungen in Südostasien unsere Kleidung
nähen, bis der steigende Meeresspiegel sie schluckt.
Who cares, ob du Trotzki-Fan bist oder der Niederlage der POUM in Spanien
in den Dreißigern hinterhertrauerst?
Übrig bleibt nur unbezwungener Kapitalismus. Unser individualistisches und
freiheitsversprechendes System hat es geschafft: es hat die Arbeiter:innen,
die, die eigentlich links wählen müssten, davon überzeugt, den freien Markt
zu lieben, den deutschen Traum. Den Mythos, jede:r habe die Chance auf den
Aufstieg. Sei gleichzeitig schuld am eigenen Versagen. Links- das bringe
nur den Kommunismus, links ist gefährlich, verfassungsfeindlich, nicht
koalitionswürdig.
Die Lösung liegt im „demokratischen Sozialismus“, denkt sich Lotta. Ja, das
ist keine schlechte Idee, der demokratische Sozialismus. Es ist sogar eine
sehr gute, aber sie klingt veraltet und könnte vielleicht sogar ein
Widerspruch in sich sein. Jedenfalls wird das „demokratisch“ schnell
überhört und dann klingt es nur noch nach „Sozialismus“. Und das klingt
nach Diktatur, Mauer und Mangelware, nach Einschränkung der Freiheit (was
auch immer das heißen mag im kapitalistischen System) und nach Stalin. Oder
eben nostalgisch gesehen nach Arbeiterbewegung, Gleichheit, Gerechtigkeit.
## Aber was wäre, wenn …
Ja, aber wäre die Sowjetunion oder wenigstens die DDR nur anders verlaufen
und hätte nicht Stalin … hätte es demokratische Reformen gegeben … hätten
doch die Republikaner damals gegen Franco gewonnen in Spanien und hätte die
USA kein Embargo gegen Cuba verhängt… Dann wäre alles anders?
Ist das überhaupt relevant, liebe Lotta? Soziale Ungleichheit ausgleichen
ist genau das, was wir brauchen. Wenn du politisch bist, warum organisierst
du dich nicht, machst keine Politik? Alle hängen in der Vergangenheit: du,
deine roten Freund:innen und auch deine konservativen Eltern.
Währenddessen hat das Leibniz-Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung
(ZEW) mithilfe der Wahlprogramme für die diesjährigen Bundestagwahlen
[1][ausgerechnet], dass die Haushalte bis zu einem jährlichen
Bruttoeinkommen von unter 80.000 Euro, also mehr als 90% der Bevölkerung,
am meisten vom Programm der „Linken“ profitieren würden, alle anderen von
der FDP. Die Umfragewerte der „Linken“ liegen stabil bei 6%, die der FDP
bei 13%.
Und auch der Mythos, man könne linke Reformen nicht bezahlen, stimme laut
ZEW nicht. Dieselbe Studie hat gezeigt, dass mit der Steuerpolitik der
„Linken“ der Staathaushalt im größten Plus landen würde und mit der der …
im größten Minus. Interessiert aber auch eigentlich niemanden. Schließlich
wählt man keine Partei, bei der die Vorsitzende mal mit den Trotzkisten
sympathisiert hat. Auch wenn man gar nicht richtig weiß, was das für Kisten
sind, diese Trotzkisten, klingt auf jeden Fall gefährlich und nach Stalin.
Und Lotta und ihre Freund:innen wählen auch nicht. Fuck the system.
## Der Traum ist aus
Somit bleibt am Ende nichts Linkes mehr übrig. Die großen Parteien bilden
eine schwammige, nichts als Floskeln predigende Mitte, gehen unbemerkt
ineinander über, die eine ein bisschen „sozialer“, die andere ein bisschen
„christlicher“, die letzte etwas „öko“.
Der Schrei nach Klimagerechtigkeit, Antifaschismus und Seenotrettung prallt
ab an den Außenwänden des Bundestags. Und der frustrierte Arbeiter, oder
heute eher der Dienstleister, sehnt sich ebenso nach früher, doch macht er
sein Kreuzchen bei den Rechten. Marx und so sind ihm zu intellektuell. Mit
ein bisschen Glück auch bei der SPD, lieber soziale Demokratie als
demokratischer Sozialismus, denkt er sich.
Und allein, liebe linksgrünversiffte Lotta, machen sie dich bekanntlich
ein.
22 Sep 2021
## LINKS
[1] https://katapult-magazin.de/de/artikel/umverteilung-laut-wahlprogrammen
## AUTOREN
Ruth Fuentes
## TAGS
Marx
Gesprächskultur
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Kolumne Aufräumen
## ARTIKEL ZUM THEMA
taz-Autor:innen und die Wahl: Dialog ohne Missionierungsdrang
Vermittelt von „Zeit Online“ hat sich unsere Autorin mit wem getroffen, der
in vielen Punkten ganz anderer Meinungen ist als sie. Ein Erfolg.
Hungerstreik vor dem Reichstag: Lassen Sie sich erpressen!
Gehen die drei Kanzlerdandidat*innen auf die Hungerstreikenden ein,
könnten sie einen Präzedenzfall schaffen. Doch es geht um Menschenleben.
Forderungen im Wahlkampf: Bekennt euch doch selbst!
Die Linkspartei soll sich zur Nato bekennen. Wann bekennen sich die anderen
Parteien endlich? Zum Kampf gegen rechts, zu mehr Hartz IV, zu echter
Freiheit?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.