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# taz.de -- Corona im Frühjahr 2020 in Tirol: Erster Prozess zur Causa Ischgl
> Im österreichischen Skiort haben sich zu Beginn der Pandemie Tausende mit
> Corona angesteckt. Eine Witwe verklagt den Staat auf Schadensersatz.
Bild: Vorbei der Spaß! Im März 2020 ordnete Österreichs Regierung Quarantän…
Wien taz | Am Freitag beginnt vor dem Landesgericht für Zivilrechtssachen
im Wiener Justizpalast der erste Prozess von Angehörigen eines Mannes, der
sich im Tiroler Skiparadies mit Covid-19 infiziert hat und gestorben ist.
Weitere 15 Klagen liegen bei Gericht, sagt der [1][Verbraucherschützer
Peter Kolba], der insgesamt rund 3.000 Geschädigte, mehrheitlich Deutsche,
vertritt oder vertreten soll. Termine für weitere sieben Verfahren stünden
bereits fest, sagt Kolba.
Beim Auftaktprozess geht es aber nicht um deutsche Staatsbürger, sondern um
den Österreicher Hannes Schopf, einen ehemaligen Chefredakteur der
katholischen Wochenzeitung Die Furche. Die Witwe und ihr Sohn fordern von
der Republik im Rahmen einer Amtshaftungsklage eine Entschädigung von
100.000 Euro. Für sie ist offensichtlich, dass sich der damals 72-jährige
Pensionist bei der chaotischen Abreise aus Ischgl angesteckt hat.
Bundeskanzler Sebastian Kurz hatte Mitte März 2020 eine Quarantäne über das
Paznauntal verhängt und veranlasst, dass sämtliche Touristen Ischgl
umgehend verlassen mussten. Wenige Tage vorher waren mindestens 17
Personen, die sich in einem Après-Ski-Lokal infiziert hatten, positiv auf
das Coronavirus getestet worden. Schon am 5. März 2020 hatten die
isländischen Gesundheitsbehörden gemeldet, dass 14 Skifahrer aus Ischgl
coronapositiv heimgekehrt waren.
Die Tiroler Behörden zeigten sich außerstande, eine geregelte Abreise zu
organisieren. Viele der Urlauber steckten in heillos überfüllten Bussen
stundenlang im Stau. Karin Lilleike aus Hamburg hatte der taz von der
Busfahrt nach Landeck berichtet, die normalerweise 50 Minuten dauert. Der
Bus, in den Mitglieder verschiedener Gruppen gepfercht wurden, habe sich im
Schritttempo vorwärts bewegt, manche Insassen hätten gehustet, andere
geradezu manisch gequatscht. Von Lilleikes Reisegruppe hätten sich „alle,
ohne Ausnahme und egal an welchen Stellen sie im Bus gesessen haben“,
angesteckt.
## Prozess mit Präzedenzwirkung
Das dürfte auch dem ehemaligen Journalisten Hannes Schopf passiert sein.
Denn, so weiß die Witwe Sieglinde Schopf, von [2][Après-Ski-Bars], wo die
Besucherinnen und Besucher bei dröhnender Musik gerne die Sau rauslassen,
habe sich ihr Mann ferngehalten.
Kolba erwartet sich Präzedenzwirkung vom Ausgang dieses Prozesses. Es gehe
zunächst darum, das schuldhafte Verhalten der österreichischen Behörden
festzustellen. Ob die Verantwortung jetzt Bundeskanzler Kurz (ÖVP) treffe,
der überfallsartig eine Quarantäne verhängt hatte, oder die
Bezirkshauptmannschaft Landeck, die bei der Evakuierung versagte, sei
unerheblich. Kolba spricht gegenüber der taz von einem „Multiorganversagen“
des Staates.
Die Richterin wird vermutlich zunächst einen Vergleich vorschlagen. Kolba
rechnet aber nicht damit, dass die sogenannte Finanzprokuratur, die die
Interessen des Staates vertritt, dazu bereit sei. Bisher habe sie immer die
Verantwortung staatlicher Organe bestritten. Auch Kolba und sein
Verbraucherschutzverein VSV wollen ein konkretes Urteil: „Wir lassen uns
nicht einzelne Fälle wegvergleichen.“
## Dutzende weitere Fälle könnten folgen
Eine [3][Prozesslawine zur Causa Ischgl] steht bevor. 15 Einzelfälle sind
bereits gerichtsanhängig, weitere 40 könnten folgen, wenn die dreimonatige
Wartefrist nach einer negativen Antwort der Finanzprokuratur zur
Schuldfrage verstrichen ist. In 30 Fällen erwartet Kolba demnächst grünes
Licht von deutschen Rechtsschutzversicherungen, die das Prozessrisiko
übernehmen.
Insgesamt seien an die 500 Geschädigte durch Rechtsschutzversicherungen
gedeckt. Für alle anderen steht der VSV in Verhandlungen mit
Prozessfinanzierern, die dann die Kosten für eine Sammelklage übernehmen
würden.
Kolba betont, dass die gerichtliche Aufarbeitung der Katastrophe von
Ischgl nicht der vordringliche Wunsch der Geschädigten gewesen sei. Vor
einem Jahr hatte der VSV in der Vertretung von über 6.000 Ischgl-Opfern
Bundeskanzler Kurz einen runden Tisch für die Ausarbeitung einer
gemeinsamen Lösung vorgeschlagen. „Auf diesen Brief gibt es bis heute keine
Reaktion“, so Kolba.
Beim Prozessauftakt am Freitag werde es mit Sicherheit noch kein Urteil
geben, meint Kolba. Es werde aber darüber entschieden, welche Beweismittel
in Zukunft aufgenommen werden. Und der VSV hat eine Liste von äußerst
prominenten Zeugen vorgelegt: Von Bundeskanzler Kurz und Innenminister Karl
Nehammer (beide ÖVP) bis zum Vizekanzler Werner Kogler und dem im April
zurückgetretenen Gesundheitsminister Rudolf Anschober (beide Grüne).
Sollten sie aussagen müssen, ist mit noch größerer Aufmerksamkeit für die
Prozesse zu rechnen.
17 Sep 2021
## LINKS
[1] /Klage-wegen-Corona-Ausbruchs-in-Europa/!5759256
[2] /Trotz-Corona-Ausbruch/!5669241
[3] /Coronavirus-in-Ischgl/!5715794
## AUTOREN
Ralf Leonhard
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