# taz.de -- Die Wahrheit: Mit Raubtieren auf Fellfühlung | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (129): Wie tierisch | |
> human mit dressierten Bestien umgegangen wird. Oder auch nicht. | |
Bild: Die Parodie der Raubtierdressur: Hund im Löwenkostüm | |
Carl Hagenbeck hatte 1867 in seinem Zirkus die wilde Dressur, also „die | |
gewohnheitsmäßige Brand- und Stockdressur“, durch eine „zahme Dressur“, | |
eine Mischung aus Schlägen beziehungsweise Peitschenhieben und | |
Belohnungshappen, ersetzt. Er wollte mit dieser Dressur „einen Weg zur | |
Psyche des Tieres“ finden, wie er in seiner Autobiografie „Von Tieren und | |
Menschen“ (1908) schrieb: „Je geduldiger und gütiger der Dompteur ist, | |
desto mehr Vertrauen werden die Tiere zu ihm fassen; ist seine Güte aber | |
nicht mit Strenge gepaart, die sich Gehorsam zu erzwingen weiß, dann wird | |
der Vorführung die Sicherheit mangeln.“ | |
Der sowjetische Zirkushistoriker Jewgeni Kusnezow spricht in seinem Buch | |
„Der Zirkus der Welt“ (1970) von Hagenbecks „humaner Dressur“. „Sie h… | |
sich um die Jahrhundertwende überall durchgesetzt, ihre Erfolge waren zu | |
offensichtlich.“ Dabei wandelten sich jedoch die Begriffe: „Zahm war nun | |
eine ruhige, seriöse Nummer“ und „wild“ eine gefährlich wirkende, „be… | |
man die Tiere reizte“. Kusnezow zufolge begann „mit der Verbreitung der | |
humanen Dressur die große Zeit der Frauen im Raubtierkäfig“, und sie | |
dressierten meist nicht mit männlicher Respekterheischung, sondern eher mit | |
weiblicher Anmut. | |
Der Tierpsychologe Otto Koehler äußerte 1942 in Berlin gegenüber dem | |
späteren Zoodirektor Bernhard Grzimek: „So weit, dass wir mit Elefanten und | |
Tigern Versuchsreihen anstellen, sind wir noch lange nicht. Wir müßten erst | |
mal wenigstens mit ihnen richtig Fühlung haben und das nicht nur den | |
Zoowärtern und Dompteuren überlassen.“ | |
Grzimek, der bereits bei sich zu Hause einen Wolf gezähmt hatte, bat | |
daraufhin die Zirkusdirektorin Trude Sarrasani um Erlaubnis, bei ihr als | |
„Tigerdompteur“ aufzutreten. Der Raubtierdompteur Hermann Haupt, der einst | |
bei der berühmten Löwenbändigerin Claire Heliot assistiert hatte, leitete | |
ihn an – indem er Grzimek im Manegenkäfig zum Beispiel zurückzog mit der | |
Bemerkung: „So nahe dürfen Sie an Daisy niemals ran, die packt sie von | |
hinten an.“ | |
## Pedantische Tiere | |
Vor der „großen Tigerin Gitta“ warnte er ihn: Sie ist „bösartig“ – … | |
dann auch die Einzige, bei der Grzimek „etwas unbehaglich zumute“ war. Im | |
Übrigen empfand er die Raubtiere als „grässliche Pedanten“: Wenn nur eine | |
Kleinigkeit im Ablauf der Nummer anders war, klappte die Vorführung nicht. | |
Besonders schlimm wäre es gewesen, wenn beispielsweise „einer der Tiger mit | |
seinem Podest hinfiele, es würde Krach, Aufregung und womöglich einen | |
Aufstand geben“. | |
Der „Tierlehrer“ Otto Sailer-Jackson beschreibt in seinem Buch „Löwen – | |
meine besten Freunde“ (1978), wie seine „handzahm gemachten“ Löwen einen | |
Aufstand als „wahre Schauspieler“ mimten: „In jeder Vorstellung ging Pasc… | |
mit furchtbarem Gebrüll gegen mich zum Scheinangriff vor. Die anderen | |
folgten ihm und gaben mit ihrem Brüllen ein schreckenerregendes Konzert. Im | |
Augenblick höchster Erregung des Publikums warf ich meine Peitsche weg und | |
stand mit verschränkten Armen den brüllenden Löwen gegenüber. Als Pascha | |
ganz nahe heran war, sprang ich ihm plötzlich entgegen, umarmte ihn unter | |
dem Gebrüll der anderen und gab ihm einen Kuß. Pascha drehte sich daraufhin | |
um und ging auf seinen Platz zurück. Die anderen folgten ihm. Tosender | |
Beifall.“ | |
Der indische Dompteur Damoo Dhotre trat mit verschiedenen Raubkatzengruppen | |
auf. In seiner Autobiografie „Wild Animal Man“ (1961) schreibt er, dass er | |
seinen „Ruhm“, vor allem in Amerika, der Leopardin „Sonia“ verdankte, d… | |
nur mit einem Lasso dirigiert werden konnte (in Amerika dressierte man mit | |
Schlinge und Stuhl). Sie galt als „bösartig“, weil sie „andere Tiere | |
angriff und den Dompteur behandelte, als wäre er Luft für sie“. | |
Dhotre gegenüber verhielt sich die wild geborene Leopardin jedoch wider | |
Erwarten freundlich: „Sie hätte eine Hauskatze oder ein Schoßhund sein | |
können, nach ihrem Verhalten zu urteilen.“ Für ihn wurde sie eine „König… | |
und sie war so lange glücklich, wie man sie als solche behandelte“. Die | |
Leopardin hatte gelernt, „alle die manchmal für ein Tier sicher | |
unverständlichen Dinge zu akzeptieren, die ihr von mir beigebracht wurden“. | |
## Tanz des Todes | |
Für eine Vorstellung im New Yorker Square Garden wollte er zum Abschluss | |
mit ihr zur Musik von „An der schönen blauen Donau“ im Zentralkäfig tanze… | |
Als alle anderen Tiere draußen waren, breitete er die Arme aus und warf | |
Stock und Peitsche weg, Sonia kam langsam auf ihn zu, erhob sich auf die | |
Hinterbeine und umarmte ihn. So tanzten sie „durch den ganzen Käfig. Dies | |
war die Nacht, von der ich mein Leben lang geträumt hatte.“ Es hätte auch | |
ein „Tanz des Todes“ werden können, fügte er hinzu, dann wäre „das der | |
krönende Höhepunkt einer aufregenden Dompteurlaufbahn gewesen“. | |
Grzimek erinnerte in seinem Buch „Unsere Brüder mit den Krallen“ (1961) | |
daran, dass in der „Tierseelenforschung“ versucht wurde und werde, den | |
Menschen aus der Versuchsanordnung herauszuhalten, um auch unbewusste | |
Beeinflussungen auszuschalten, wohingegen bei der „Zirkusdressur gerade | |
diese enge Beziehung von Mensch und Tier psychologisch interessant“ sei. | |
Als die mit einer Eisbärengruppe berühmt gewordene DDR-Dompteurin Ursula | |
Böttcher 1955 das erste Mal vor einer Löwengruppe stand und die brav alles | |
taten, was sie sollten, dachte sie: „Hui, die haben ja Respekt vor mir.“ | |
Einmal aber, als sie dem Löwen „Royal“ ein Stück Fleisch zur Belohnung ga… | |
was dieser gewohnheitsmäßig mit einem Prankenhieb quittierte, dem Ursula | |
Böttcher nicht schnell genug auswich, zerriss es ihr die Pulsader. Ihr | |
holländischer „Tierlehrer“ Gaston Bosman sagte, nachdem sie aus dem | |
Krankenhaus entlassen worden war, er würde es ihr nicht übel nehmen, wenn | |
sie nun aufgebe. Aber warum denn, antwortete sie, „Royal hat es doch | |
bestimmt nicht mit Absicht getan. Ich glaube sogar, der ist noch mehr | |
erschrocken als ich.“ | |
Die Leipziger Dompteurin Claire Heliot und ebenso Ursula Böttcher gingen | |
mit ihren Raubtieren mütterlich um. Wie auch die amerikanische | |
Tigerdompteurin Mable Stark, deren Lieblingstiger mit ihr im Wohnwagen | |
lebte. Sie wollte irgendwann mit ihren zwölf geliebten Großkatzen keine | |
albernen Kunststücke mehr einüben, sondern ihre Schönheit zeigen: Die Tiger | |
liefen herum, sprangen von Postament zu Postament – und taten alles wie im | |
Fluss. Sie erwartete großen Applaus, er war aber nur verhalten | |
„respektvoll“. | |
Ganz anders die darauffolgende Löwennummer eines Dompteurs: „Die Tiere | |
fletschten die Zähne, schlugen mit den Tatzen durch die Luft, der Dompteur | |
mußte mehrmals seine Schreckschußpistole einsetzen.“ Als sie von ihren | |
Postamenten runtersprangen und auf ihn losgingen „mußte er sich mit einem | |
Hechtsprung durch die auffliegende Käfigtür retten“. Das Publikum johlte | |
und klatschte stehend. | |
Die Löwendompteurin beim Zirkus Busch, die Wienerin Tilly Bébé, über die | |
Paula Busch einen Roman veröffentlichte, schrieb schließlich über ihre | |
Auftritte: „Diese unverkennbare Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit, | |
zwischen Leben und Tod ist im Grunde die Stelle, die das Publikum | |
interessiert.“ | |
13 Sep 2021 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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