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# taz.de -- Proteste in Belarus – ein Jahr danach: Zähne zusammenbeißen und…
> Die Arbeit von Journalist*innen in Belarus ist lebensgefährlich
> geworden. Viele sind bereits in Haft. Doch einfach aufgeben ist keine
> Option.
Bild: Opfer staatlicher Gewalt: Abschied am offenen Sarg von Roman Bondarenko a…
Ich lebe seit Ende Oktober 2018 in Warschau. Ich war hierhergekommen, um
für Belsat zu arbeiten – einen belarussischen Fernsehkanal, der noch nie
eine Akkreditierung vom belarussischen Außenministerium bekommen hat. Die
Leitung von Belsat sitzt in Warschau.
Als Redakteurin der Webseite konnte ich nicht in Belarus bleiben. Nur von
Warschau aus konnten wir die zahlreichen Streams machen. Damit das gleich
klar ist: Ich werde alle Namen mit einem Buchstaben abkürzen. Einige der
Mitarbeiter*innen leben noch in Belarus, andere haben das Land
verlassen oder sitzen im Gefängnis. Auch außerhalb von Belarus haben die
Menschen Angst – um geliebte Menschen, die dort geblieben sind. Ich habe
mich schon lange dafür entschieden, offen zu sprechen. Dadurch habe ich mir
den Weg nach Belarus versperrt. Für wie lange? Keine Ahnung.
Das ganze Jahr 2019 und Anfang 2020 habe ich Journalist*innen zum
Streamen geschickt. Von Warschau aus koordinierte ich die Arbeit von sechs
Personen: zwei Kameraleuten, zwei Journalisten, einem Fotografen, einem
Assistenten.
## Im Sommer 2020 wurde alles anders
Im Sommer 2020 änderte sich alles. Ich hatte schon vorher gewusst, was zu
tun war, wenn jemand festgenommen worden war. [1][Ich kannte die Regeln der
Okrestina] (Untersuchungsgefängnis in der Okrestinastraße in der Hauptstadt
Minsk): Wie Zigaretten eingepackt werden mussten, damit sie angenommen
wurden, wie Saft abgefüllt und Wurst geschnitten werden mussten, damit die
Wachen diese Dinge nicht zurückschickten.
Plötzlich musste ich in die Rolle einer Journalistin schlüpfen, die ihre
Kolleg*innen ins Feld schickte – ein Job, für den sie für 24 Stunden
eingesperrt werden konnten. Über das Schicksal einer Person zu entscheiden
– so eine Arbeit wünsche ich niemandem. Daran kann man sich nicht gewöhnen.
Vom Sommer 2020 an sagte ich, wenn ich unseren Journalist*innen einen
Auftrag erteilte: „Passt gut auf, lieber nichts aufnehmen oder an die
Redaktion schicken. Das Wichtigste ist, in Freiheit zu bleiben.“ Die
Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen hat Belarus als den
gefährlichsten Ort für Journalist*innen in ganz Europa bezeichnet. Das
stimmt.
Im April 2020, vier Monate vor der Präsidentenwahl, wurde klar, dass der
Wahlkampf ganz anders sein würde als der vorherige. Ein „Es wird schlimmer
sein als 2010“ lag in der Luft. Damals waren die Proteste auf dem Platz der
Unabhängigkeit gewaltsam aufgelöst und über 700 Menschen festgenommen
worden. Wir sollten recht behalten – es wurde schlimmer.
## Journalist*innen in Lebensgefahr
Schon Mitte Juni begannen wir damit, für unsere Journalist*innen
spezielle Ausrüstungsgegenstände zu beschaffen: kugelsichere Westen, Helme,
Atemschutzmasken, Baukopfhörer, die vor Explosionen schützen. Das geschah
gerade noch zur rechten Zeit.
Eine kugelsichere Weste rettete unsere I. Eine Kugel prallte ab und traf
nur das Steißbein. Ihr Rucksack wurde von Gummigeschossen durchsiebt. Es
ist offensichtlich schwierig, nicht zu bemerken, dass ein/e
Journalist*in eine Weste mit der Aufschrift „Presse“ trägt, oder?
T. hatte keinen Kopfhörer aufgesetzt und erlitt eine Gehirnerschütterung –
eine Granate war in der Nähe explodiert. So vergingen die ersten Tage nach
der Wahl am 9. August. „Das hier ist ein Albtraum, ständig gibt es
Explosionen“ – Nachrichten, von denen ich mich am 9., 10. und 11. August
nicht aus der Ruhe bringen zu lassen versuchte. Doch meine Hände zitterten
und ich begann, mehr als eine Schachtel Zigaretten am Tag zu rauchen. Wir
bissen die Zähne zusammen, arbeiteten und schliefen im Büro auf dem Boden.
Emotionale Tage nach der Präsidentschaftswahl
Am 12. August weinte ich, als in Belarus das Internet wieder funktionierte
und meine Mutter mich erreichte. Sie war gerade auf die Webseite von Belsat
gegangen und hatte etwas über die Explosionen, Prügel in der Okrestina und
Verletzte gelesen.
Meine Freundin, ebenfalls Journalistin, hatte mir eine Stunde vor dem Anruf
meiner Mutter erzählt, wie sie sich in einem Mülleimer versteckt hatte, um
der Omom (Spezialeinheit, die vor allem Jagd auf Demonstrant*innen
macht; Anm. d. Red.) zu entkommen. Ich sprach mit meiner Mutter und brach
in Tränen aus. Normalerweise versuche ich, nicht vor meiner Mutter zu
weinen. Aber am diesem Tag konnte ich mich nicht zurückhalten.
In Belarus funktionierte das Internet nicht. Deshalb arbeitete jeder in
unserem Team in Warschau bis zum Umfallen. Ich erinnere mich nicht mehr,
was ich aß und wo ich schlief. Ich weiß nur noch, dass ich, obwohl mir
morgens schlecht war, ein Taxi rief und wieder zur Arbeit fuhr. Wir in
Warschau waren weit von Belarus entfernt, aber dank unserer mutigen
Journalist*innen bekamen wir mit, was in der Heimat passierte. Bis
heute weiß ich jeden Dialog auswendig.
## Die Fronten verhärten sich
Im Oktober wurde es noch schwieriger zu arbeiten. Gegen
Teilnehmer*innen von Aktionen wurden erstmals massenhaft Strafverfahren
eingeleitet. In den Augen der Staatsmacht sind Journalist*innen
Teilnehmer*innen an Protesten. Wir tragen bereits seit einem Monat
keine „Presse“-Westen mehr, das erregt nur Aufsehen.
Im November, [2][nachdem Roman Bondarenko infolge von Schlägen gestorben
war], kamen Menschen zu seinem Haus, um seiner zu gedenken. Wir streamten
aus einer Wohnung. Katja Andreewa und Dascha Schulzowa dokumentierten, wie
die Menschen auseinandergetrieben wurden, Explosionen und Festnahmen. Katja
und Dascha wurden ebenfalls festgenommen. [3][Im Februar 2021 wurden sie zu
zwei Jahren Strafkolonie verurteilt].
Einen Tag nach der Festnahme von Katja und Dascha wurde auch die
Journalistin von TUT.by, Katerina Borisewitsch, verhaftet. Sie hatte
geschrieben, dass im Blut von Roman Bondarenko kein Alkohol nachgewiesen
worden sei. Das widersprach der offiziellen Version. Katja verbrachte sechs
Monate im Gefängnis.
Im Frühjahr 2021 traf ich eine Entscheidung: Journalist*innen nicht
mehr auf Reportage zu schicken. Fotografen sind jetzt nicht mehr mit
Kameras unterwegs, sondern mit Telefonen. Offen zu sagen, du seist
Journalist*in, ist, als ob du dich selbst einer Straftat bezichtigen
würdest.
## Vorwurf: Extremismus
Unlängst verkündete das Eisenbahnergericht in Gomel seine Entscheidung: Der
TV-Kanal Belsat und die Verbreitungskanäle (soziale Medien, Webseite) sowie
jede Erwähnung des Wortes Belsat sind extremistische Inhalte. Schock.
Panik. „Olga, was tun?“ Weiterarbeiten. Egal, wo wir sind – ob in Warscha…
Kiew oder Vilnius. Wir machen unseren Job.
Als Redakteurin sehe ich, wie der Journalismus immer weiter in
Partisanentum abrutscht. Immer häufiger verwenden wir Fotos von
Leser*innen anstatt unserer eigenen. Wir bemühen uns nicht mehr um
Kommentare von der anderen Seite. Wie durch ein Wunder schaffen wir es
immer wieder, die Informationen zu überprüfen.
Nicht alle Journalist*innen haben Belarus verlassen. Und nicht alle
werden gehen. Einige Leute aus meinem Team haben gesagt: „Ich gehe aus
Prinzip nicht weg, selbst wenn mir Haft droht.“ Ich bin stolz auf diese
Menschen, auf jeden Einzelnen von ihnen.
In dem Film „Spectre“ kommt folgender Satz vor: „Sie sind wie ein Drachen
in einem Hurrikan, Mr Bond.“ Genauso fühle ich mich jetzt auch: wie ein
Drachen, der vom Wind in alle Richtungen zerfetzt wird.
Schreiben, Journalist*innen herausholen und denen Anweisungen zum
Überleben geben, die in Belarus geblieben sind. Und aufrecht stehen hinter
dem Rücken mutiger Menschen, die ihrem Beruf treubleiben, egal was kommt.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
20 Aug 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Olga Jerochina
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