# taz.de -- Debatte ums Fliegen: Nicht jede Oma wohnt in Dessau | |
> Klimaschutz und Fliegen kann man nicht vereinen. Warum es trotzdem falsch | |
> ist, alle Leute, die fliegen, als moralisch minderwertig zu | |
> diskreditieren. | |
Bild: In einer globalisierten Welt kommt man nicht ums Fliegen herum | |
„Jeder Mensch, der fliegt, sollte ein schlechtes Gewissen haben.“ | |
Dieser Satz ist so unreflektiert, sehr aus einer eigenen Blase gesprochen | |
und die Person, die ihn sagte, dachte vermutlich keine Sekunde darüber | |
nach, wie er auf andere wirken könnte. Und vor allem wurde dieser Satz mir | |
ins Gesicht gespuckt, nachdem ich am Esstisch in der Mensa meinen | |
Freund:innen erzählt hatte, dass ich im Herbst meine Familie in Japan | |
besuchen wollte. | |
„Gilt das auch, wenn es Besuch der eigenen Familie ist?“, fragte ich den | |
Typen, der sich ungefragt in unsere Konversation gemischt hatte. Der Typ | |
zuckte nur mit den Schultern und wiederholte seinen Satz. Dann schlug er | |
Alternativen vor, auf welch andere Art und Weise man doch auch verreisen | |
könnte. Stolz brachte er das Beispiel einer Freundin, die nach Indien | |
getrampt war. | |
Ich stimme zu, dass die Realität und Dimension der Klimakrise in diesem | |
Wahlkampf weitgehend verdrängt wird. Ich stimme auch zu, dass Flugreisen | |
aus Klimaschutzgründen nicht die beste Option sind, um von A nach B zu | |
kommen. | |
## Mangelndes Bewusstsein | |
Als Kind dachte ich gar nicht über den CO₂-Ausstoß nach. Ich war keine zwei | |
Monate alt, als ich das erste Mal einen Flieger bestieg, damit meine Eltern | |
mich meiner japanischen Familie vorstellen konnten. Es war ein | |
unhinterfragter Teil meiner Kindheit und Jugend, dass ich mit dem Flugzeug | |
zwischen Deutschland und Japan pendelte. | |
Inzwischen bin aber auch ich reflektierter geworden und versuche, meine | |
Flüge auf ein Minimum zu reduzieren. Sprüche wie „du sollst beim Fliegen | |
Schuldgefühle haben“ führen allerdings dazu, meine ohnehin schon vorhandene | |
Verzweiflung über die Unvereinbarkeit des moralisch korrekten Verhaltens | |
einerseits und Sehnsucht nach Familie andererseits zu verstärken. Aber das | |
ist nicht das einzig Problematische an einem solchen Satz. | |
Erstens ist der Gedanke, die Schuld dem Individuum zuzuschieben, sehr | |
problematisch. Aufklärung über den Klimawandel und die Bedeutsamkeit der | |
nachhaltigen Lebensweise sind wichtig. Aber dieselbe Energie, die man | |
nutzt, um anderen ein schlechtes Gewissen einzureden, kann auch in | |
politische Forderungen gesteckt werden. | |
Man könnte sich beispielsweise dafür einsetzen, dass der Staat | |
[1][Subventionen für Flugunternehmen] streicht und diese stattdessen in | |
Klimaschutz und Nachhaltigkeit investiert. Die Flugpreise könnten auch an | |
CO₂-Kompensationen gekoppelt werden. Um finanziell Schwächere zu entlasten, | |
könnten die Kompensationen von First- und [2][Businessclass Fliegenden] | |
gezahlt werden, deren Flüge oftmals sowieso von Unternehmen übernommen | |
werden. Und wenn CO₂-Kompensationen nicht zur Verbesserung der Klima- und | |
Umweltlage beitragen, müssen eben neue Ideen eingeführt werden. Man könnte | |
die Investition und Forschung in E-Flugzeuge beschleunigen oder Gasturbinen | |
als Übergangslösung durchsetzen, da sie etwas weniger Treibstoff | |
verbrauchen. | |
## Keine richtige Alternative | |
Zweitens ist die Aussage, Schuldgefühle haben zu müssen, völliger Humbug an | |
sich. Menschen hören nicht auf zu fliegen, weil sie Schuldgefühle haben. | |
Das Auslandssemester oder der Work&Travel werden dann trotzdem unternommen | |
und niemandem ist geholfen. Ferner unterstellt sie pauschal, dass sich | |
Menschen keine Gedanken über ihren ökologischen Fußabdruck machen. | |
Und drittens gibt es Länder, die man nicht so einfach ohne Flugzeug | |
erreichen kann. | |
Oft werden von Fluggegner:innen Alternativen wie Radfahren, Trampen | |
oder Zugfahren vorgeschlagen. Dabei wird die geografische und finanzielle | |
Dimension völlig ignoriert. Schauen wir uns mein Beispiel an: ich bin | |
wohnhaft in Berlin, meine Familie wohnt in Japan. | |
Möchte ich von hier aus mit Zug und Bahn fahren, müsste ich erstmal von | |
Berlin nach Moskau kommen, was mit der Deutschen Bahn ohne Verspätung 22 | |
Stunden und 28 Minuten dauern würde. Von dort beträgt die Reise nach Peking | |
mit der transsibirischen Eisenbahn 16 Tage. Von Peking nach Tokyo brauche | |
ich 2 Tage 14 Stunden. Insgesamt benötige ich also über neunzehn Tage, um | |
überhaupt die Hinfahrt zu überwinden, und das wäre, wenn ich nirgends eine | |
Stunde Halt machen würde. Der Spaß darf dann 5.431 Euro für die günstigste | |
Variante kosten, inklusive Visum für Russland und China. | |
## Zeit ist Geld | |
Auch das Radfahren nach Japan kann ausgeschlossen werden. Die | |
Reiseabteilung einer größeren Buchhandlung ist oft beschmückt mit Büchern | |
über Menschen, die eine wundervolle Reise in die Ferne mit dem Rad | |
unternommen haben. Aber selbst die Strecke von Berlin bis Peking beträgt | |
13.000 km Landstrecke und dann darf ich entweder von Peking bis nach Japan | |
schwimmen und das Rad auf dem Rücken tragen, Fähre fahren, oder – fliegen. | |
Nein. Das Fahrrad ist maximal eine innereuropäische Verkehrsoption, aber um | |
eine solche Reise zu machen, wird sehr viel Zeit benötigt. Außerdem muss | |
man dafür erstmal ein gutes Rad besitzen, das die Strecke aushält, und | |
solch ein gutes Rad kostet fast so viel wie der Hin- und Rückflug. | |
Vom Trampen muss man gar nicht erst sprechen, denn da unterscheidet sich | |
die gelebte Welt von Männern und Frauen gewaltig, ganz zu schweigen von | |
Gefahren für LGBTQIA-Menschen oder Unbequemlichkeiten für Menschen mit | |
Behinderung. | |
Das Bedürfnis, den Finger auf andere zu richten und den Moralapostel | |
spielen zu wollen, kann ich verstehen, denn im Gespräch mit anderen | |
Menschen geht es mir häufig ähnlich. Man sollte aber trotzdem üben, vorher | |
nochmal inne zu halten und darüber nachdenken, ob die eigene Aussage nicht | |
eher spaltet oder als migrationsfeindlich wahrgenommen werden könnte. | |
## Ausland ist nicht nur Europa | |
Laut Bundeszentrale für politische Bildung leben in Deutschland zwischen | |
10,1 und 11,4 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Auch | |
jene mit deutscher Staatsangehörigkeit können aber noch Wurzeln im Ausland | |
haben. 39 Prozent der Kinder in diesem Land haben einen | |
Migrationshintergrund, die Mehrheit mit 70 Prozent aber einen deutschen | |
Pass, und nur jedes fünfte Kind hat die Migrationserfahrung selbst erlebt. | |
Ihnen wird die Kategorie „Kind mit Migrationshintergrund“ zugeschrieben, da | |
ihre Eltern aus dem Ausland eingewandert sind. Viele dieser Menschen haben | |
noch Familien im Ausland, die sie auch gerne besuchen wollen würden. | |
Solange die Großeltern in Frankreich, Österreich oder Polen wohnen, ist die | |
geographische Distanz schnell überwindbar. Allerdings sind selbst hier | |
Sprüche wie „Bus, Bahn und Auto vor Flugzeug“ problematisch, denn die | |
Entscheidung, welches Verkehrsmittel diese Leute verwenden, sollte nicht | |
aufgrund von Druck oder Scham erfolgen. | |
Wer in seiner deutschen, studentischen Blase mit drei Monate Semesterferien | |
trotzdem weiterhin darauf beharrt, Fliegen sei ein Privileg und man solle | |
jedes Mal, wenn man in einen Flieger steigt, Schuldgefühle in sich tragen, | |
ist sich seiner eigenen Privilegien nicht bewusst: nämlich, dass er jeden | |
Monat seine Großeltern besuchen kann und diese auch fröhlich beim | |
Familienfest an Ostern und Weihnachten dabei sind. Derweil müssen viele | |
andere Menschen mehrere Jahre auf den passenden Zeitpunkt warten, um mal | |
für zwei Wochen gemeinsam mit der Oma essen gehen zu können. | |
4 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Shoko Bethke | |
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