| # taz.de -- Afghanistan und die Länder: Politik der Selbstverständlichkeit | |
| > Bremen erklärt, Platz für 150 Ortskräfte aus Afghanistan zu haben: Als | |
| > Großtat lässt sich das nicht verkaufen, auch wenn das im Wahlkampf gut | |
| > käme. | |
| Bild: Bürokratie könnte der Humanität dienen. Könnte | |
| BREMEN taz | Ein kleines Lob gibt es auch vom Landesflüchtlingsrat. Es sei | |
| „schon gut“, sagt Gundula Oerter, dass Sozialsenatorin Anja Stahmann | |
| (Grüne) und Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) „die Bereitschaft signalisiert | |
| haben, 150 Ortskräfte in Bremen unterzubringen“. In einer gemeinsamen | |
| Erklärung hatten sie dieses Kontingent gemeldet. „Aber das reicht nicht “, | |
| so Oerter zur taz. Benötigt werde stattdessen ein Landesaufnahmeprogramm. | |
| Denn: Die Beschränkung auf Ortskräfte – jene also, die mit den Nato-Truppen | |
| in Afghanistan zusammengearbeitet haben und die nun Racheaktionen der | |
| neuen Machthaber fürchten – greife zu kurz. Wie Nazanin Ghafouri vom | |
| Flüchtlingsrat Bremen erklärt, gelte es stattdessen, „allen Angehörigen von | |
| Bremer*innen ganz konkret Schutz und eine Perspektive“ anzubieten. | |
| Anfragen von „verängstigten und verzweifelten Menschen, deren | |
| Familienangehörige sich noch in Afghanistan befinden“, würden den | |
| Flüchtlingsrat täglich erreichen. | |
| Auch müssten „Frauen- und Menschenrechtsaktivist*innen, kritische | |
| Journalist*innen, verfolgte Minderheiten wie die Hasara, queere Personen | |
| und andere unmittelbar bedrohte Menschen in Sicherheit gebracht werden“, so | |
| Ghafouri. | |
| Ein Bundesland hat einen solchen Spielraum, wenn es ein Aufnahmeprogramm | |
| vorlegt. Während Schleswig-Holstein ankündigt, diesen Weg zu gehen, heißt | |
| es beim Bremer Innensenator, das „dürfte zu lange dauern und praktisch | |
| schwer umsetzbar sein“. Denn so ein Programm müsste mit Bundesregierung und | |
| Innenminister*innenkonferenz abgestimmt werden, [1][so sieht es | |
| Paragraf 23, Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes vor.] | |
| ## Der Bund hat das Sagen | |
| Das jetzige Bremer Vorgehen hingegen ist in Absatz 2 desselben Paragrafen | |
| geregelt: Demnach kann das Bundesinnenministerium „anordnen, dass | |
| bestimmten Ausländergruppen eine Aufnahmezusage“ zu erteilen ist: Job der | |
| Länder ist da nur zu signalisieren, welche Kapazitäten man hat. „Die | |
| Beschränkung auf Ortskräfte ist nicht unsere Entscheidung“, bestätigt ein | |
| Sprecher der Sozialbehörde. | |
| Wenn Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) also angesichts der | |
| Nachricht via Twitter mitteilt, bei den 150 Plätzen handele es sich um | |
| „eine humanitäre Selbstverständlichkeit“, ist das Wort „humanitär“ s… | |
| ein wenig übertrieben: administrative Selbstverständlichkeit träfe es eher. | |
| Aber Klappern gehört nun mal zum Wahlkampf, der sich hier unausgesprochen | |
| ausspricht. | |
| Dabei zeigt sich, wie sehr das von der rot-grünen Bundesregierung 2001 | |
| begonnene Afghanistan-Abenteuer als parteihistorische Hypothek wahrgenommen | |
| wird. Während die Grünen es mit Fehlerkultur probieren und laut Kirsten | |
| Kappert-Gonther „darauf drängen, dass der Einsatz evaluiert wird“, scheint | |
| die Lage bei der SPD widersprüchlich: In dieser Hinsicht sind Bovis | |
| Social-Media-Posts besonders aussagekräftig. | |
| Seine „grundsätzlicheren Gedanken“ zum Thema teilt der Präsident des Sena… | |
| via Facebook mit. Sonst selbst ein Peacenik, arbeitet er sich in dem Text | |
| an der Position der Linken ab, die als einzige Kraft im Parlament stets | |
| Nein zum Krieg gesagt hat. Bovenschulte nun erklärt den ersatzlosen | |
| Truppenabzug für einen Fehler – was taktisch nachvollziehbar ist. | |
| Er rügt dafür jedoch diejenigen, „die die Bundesregierung für die | |
| derzeitige Lage scharf kritisieren, aber im Bundestag immer gegen eine | |
| Verlängerung der Bundeswehr-Mission gestimmt haben“. Das ist der Versuch, | |
| die Schuld am Desaster infolge eines Auslandseinsatzes geradezu | |
| kontrafaktisch jenen zuzuweisen, die ihn für falsch gehalten hatten. | |
| ## Linker Realismus | |
| „Unsere Ablehnung militärischer Afghanistan-Einsätze ist keine | |
| Realitätsverweigerung“, bekräftigte Doris Achelwilm (Die Linke) diese | |
| Haltung anlässlich der Rückeroberung Kabuls durch die Taliban, „sondern so | |
| vernünftig und konkret, dass sie mal besser die Richtung gewiesen hätte“. | |
| Zumal das Auswärtige Amt – geführt von Heiko Maas (SPD) – „notwendiges | |
| Handeln haarsträubend verzögert und die Gefährdungslage zu lange ignoriert“ | |
| habe, sagte sie der taz. „Die Forderungen des Flüchtlingsrats unterstütze | |
| ich mit Nachdruck.“ | |
| Anders als von Bovenschulte suggeriert und im Gegensatz zur schwarz-roten | |
| Regierungskoalition hatten gerade die Kriegsgegner*innen nicht | |
| vergessen, dass sich aus dem Einsatz eine besondere Verantwortung für | |
| örtliche Helfer*innen der Truppen ergibt: Sie aus Afghanistan | |
| auszufliegen, hatten Links- und Grünenfraktion im Juni beantragt. Die | |
| Fraktionen von CDU/CSU und SPD hatten diese „humanitäre | |
| Selbstverständlichkeit“ vor zwei Monaten jedoch abgeschmettert. | |
| „Das rächt sich jetzt bitterlich“, stellt Kappert-Gonther fest, Bremens | |
| Grünen-Bundestagsabgeordnete. Jetzt gehe es „darum, schnellstmöglich | |
| Menschenleben zu retten“, sagte sie der taz, „gesicherte Wege für alle | |
| Menschen, die vor den Taliban fliehen müssen zu ermöglichen und für eine | |
| Aufenthaltssicherung für alle Menschen afghanischer Staatsangehörigkeit, | |
| die in Deutschland leben, zu sorgen“. | |
| Sie persönlich hatte, im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin Marieluise Beck, | |
| immer [2][gegen den Einsatz gestimmt]. „Es war zu befürchten, dass es nicht | |
| gelingt, die demokratischen Kräfte zu stärken und dass die Lage sehr | |
| gefährlich würde.“ Zumal in Bremen die Afghanistan-Frage für die Grünen | |
| stets ein wunder Punkt geblieben war: Mit Marieluise Beck und Ralf Fücks | |
| stammten zwei parteiinterne Treiber der militärischen Intervention von | |
| hier. | |
| Umgekehrt hatte das Ja zum Einsatz vielen als Sündenfall gegolten und zu | |
| zahlreichen Partei-Austritten geführt. „Die Bilanz des Einsatzes ist | |
| verheerend“, stellt Kappert-Gonther nun klar. | |
| 19 Aug 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/__23.html | |
| [2] https://www.abgeordnetenwatch.de/abstimmungen/fortsetzung-des-bundeswehrein… | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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