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# taz.de -- Überforderung nach Lockerungen: Die Wiederkehr der Qual der Wahl
> Vor einigen Wochen freuten sich alle auf jede noch so kleine Lockerung.
> Doch zu viel Angebot kann wehtun.
Bild: Seit kurzem steht man bei der Abendplanung wieder „zwischen den Stühle…
Nachdem ich mir letzte Woche dummerweise mal wieder Arbeit mit ins
Wochenende genommen habe, sitze ich samstags bei hervorragendem Wetter vor
meinem Schreibtisch, während meine dauerentspannten Mitbewohner zum See
fahren.
Ich bin unkonzentriert, genervt und schlechtgelaunt ob meiner dummen
Entscheidung. Zeile um Zeile quäle ich aufs Papier, während die Sonne
draußen frech die Balkone auf der anderen Straßenseite beleuchtet.
Um 14.23 Uhr kommt die erste Nachricht: „Na, Pläne für heute Abend?“ Eine
Freundin hat irgendwo eine Party aufgetan. Ich erinnere mich, dass wir lose
verabredet waren. Am Mittwoch hatten wir beim Feierabendbier aufgeregt
palavert, dass man ja endlich wieder tanzen kann und wir bestimmt die
Einzigen in ganz Berlin seien, die das noch nicht getan haben. Ich schreibe
zurück, dass ich noch beschäftigt, aber bestimmt dabei bin und mich später
melde.
Um 18.17 Uhr bin ich fertig, ziehe mich blitzschnell an, schwinge mich aufs
Rad und fahre, bevor der Abend beginnen kann, noch kurz zu meiner Freundin.
Die bekam gestern ihre zweite Impfung, liegt meines Wissens mit Fieber im
Bett und braucht jemanden, der nach ihr schaut. Als ich mein Fahrrad in den
Hof schiebe, kommt die nächste Nachricht, jemand sitzt auf dem
Weichselplatz, eine Jazzband spielt open air. Langsam bekomme ich Hummeln
im Hintern.
## Das Problem mit der FoMO
Ich betrete die Wohnung. Es ist 19.24 Uhr. Meiner Freundin geht es besser
als erwartet, ihr ist langweilig und sie hat Lust auf Konversation. Wir
kochen Nudeln mit Tomatensoße, ich trinke Rotwein dazu, wir unterhalten uns
über allerhand Blödsinn, lachen und vergessen die Zeit.
Als ich schließlich wieder aus der Tür trete, ist es 22.38 Uhr. Ich schaue
aufs Handy. 14 entgangene Nachrichten. Die Party-Freundin fragt, wo ich
bleibe, ein anderer hat Besuch aus der Heimat und will zusammen was trinken
gehen. Meine Mitbewohner scheinen, mittlerweile gut angeheitert, in einen
Park weitergezogen zu sein. Jetzt packt mich die altbekannte FoMO, die Fear
of Missing Out!
Ich schreibe allen zurück, schwinge mich aufs Rad und stürze mich endlich
in die Nacht. Nicht ganz auf den Straßenverkehr achtend schicke ich
Sprachnachrichten, beobachte die Nachtschwärmer und versuche abzuwägen, wo
ich wohl am meisten Spaß hätte. Leicht überfordert stehe ich mit dem
Fahrrad mitten auf der Weserstraße, schaue auf mein Handy und schreibe noch
mehr Leuten. Ein Rennradler verwünscht meine Mutter, weil ich im Weg stehe.
## Am besten alles auf einmal!
Um 23.17 Uhr sitze ich mit Schawarma vor Albaik auf der Sonnenallee und
schaue auf die Straße. Eine Frau mit geschminkten Augen sitzt auf der Kante
der Bank und scheint auf jemanden zu warten. Eine Teenie-Gruppe mit
wagemutigen Haarschnitten fällt sich in die Arme. Jemand schickt mir einen
Standort. Leute laufen an mir vorbei, geschäftiges Treiben, das Nachtleben
ist wieder voll da und pulsiert um mich herum.
Vor ein paar Wochen saß ich sehnsüchtig mit einem Kumpel auf dem Balkon und
wir träumten davon, dass alles wieder losgeht. Mit leuchtenden Augen
erzählten wir uns, was wir zuerst machen würden, wenn der Lockdown vorbei
sei. Ins Museum, ins Konzert, in die Kneipe, nein, als Allererstes
natürlich Feiern!
Um 23.48 Uhr stehe ich vor meiner Haustür, völlig unfähig, eine
Entscheidung zu treffen. Ich schaue verwirrt auf mein Telefon, gehe dann
hoch, schmeiße meine Jacke auf die Couch und falle samt Klamotten
vollkommen fertig ins Bett.
Von den 99 Ausstellungen, die ich mir in den letzten Wochen anschauen
wollte, habe ich bis jetzt eine besucht. Mit dem berüchtigten Cave-Syndrom
hat das bei mir wenig zu tun, sondern eher mit der wiedergekehrten Qual der
Wahl.
15 Jul 2021
## AUTOREN
Fabian Schroer
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