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# taz.de -- Musiktheater „Demokratische Sinfonie“: Eskalierende Debatten
> Paul Brody hat 90 Stunden Bundestagssitzungen zu 75 Minuten Musiktheater
> verarbeitet. Gelingt das Polit-Reeneactment am Theater Oldenburg? Jein.
Bild: Wie in echt: Im Oldenburger Tribünenhalbrund sind nicht alle Plätze wä…
Dass in Bundestagsdebatten richtig Musik drin ist, nicht nur im
übertragenen, sondern im ganz konkreten Sinn: Davon ist Paul Brody
überzeugt. Zum Beweis durfte der Jazztrompeter und Komponist sich das
parlamentarische Hin und Her der Fakten, Argumente, Phrasen, Meinungen,
Lügen, PR-Nebelworte, rhetorischen Klüngel, ironischen Brechungen wie auch
polemischen Zuspitzungen vornehmen – und Wort für Wort den Duktus der
gesprochenen Texte in Klangkunst transkribieren.
„Demokratische Sinfonie“ ist sein Dokumentar-, Musik- und
Sprechtheaterstück am Staatstheater Oldenburg betitelt, Kevin Barz
inszenierte die Uraufführung – die auch als Feier der Demokratie mit einer
üppigen Aufführungsserie im September für die nächste Bundestagswahl werben
soll. Denn wer nun in Oldenburg dem Sound des aktuell 19. Bundestags
lauscht und dabei bemerkt, das gefällt ihm nicht: der erhält ja am 26.
September die Möglichkeit, die demokratische Sinfonie mit seinem Kreuzchen
neu zu schreiben.
Was so toll ist an parlamentarischer Demokratie? Die Antwort gibt
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im Theater aus dem Off – als Appell
an die Politiker. Seien sie doch alle, „wie Artikel 38 unseres
Grundgesetzes sagt, Abgeordnete des ganzen Volkes. Dazu müssen wir diese
Vielzahl von Interessen, Meinungen, Befindlichkeiten mit den Begrenztheiten
und der Endlichkeit der Realität zusammenbringen, und das zwingt zu
Kompromissen und zu Entscheidungen durch Mehrheit. Je besser das gelingt,
umso weniger fühlen sich Menschen in der demokratischen Wirklichkeit
zurückgelassen. Da darf Streit nicht nur sein; das geht nur über Streit.“
Streit nach Regeln.
Auf diesen Prolog plus aufbrausender Ouvertüre folgen die Wahlergebnisse
von 2017. Auch Sieger-Statements werden eingeblendet, von der „Wir werden
sie jagen“-Hetzrede des AfD-Granden Alexander Gauland über Angela Merkels
Bekenntnis zur stabilen großen Koalition bis hin zum trostlosen Schweigen
der SPD. Das sind die Eckdaten der folgenden Legislaturperiode und der
Aufführung. Die verdeutlicht in Wort, Bild und Ton, dass sich die Regeln
des politischen Streits durch die programmatisch Grenzen überschreitenden
Rechtspopulisten verändert haben, die Diskurse entsachlicht. Was auch dem
Staatsorchester die nationale Verve nimmt – und es die Deutschlandhymne
recht ratlos dekonstruieren lässt.
Regisseur Barz und Dramaturgin Anna-Teresa Schmidt haben sich 90 Stunden
Bundestagssitzungen aus den Jahren 2017 bis 2020 zu Gemüte geführt und die
Mitschriften für 75 Minuten Aufführungsminuten zusammengestrichen. Brody
strukturierte alles wie eine viersätzige Sinfonie. Auch Zwischenrufe sind
ordnungsgemäß – also wie im Sitzungsprotokoll vermerkt – eingearbeitet und
werden nun live dargeboten, Applaus kommt aus der Konserve wie in Sitcoms.
Um zu wissen, wo sich die Aufführungen zeitlich gerade verortet, wird der
historische Kontext per „Tagesschau“-Video-Clips angedeutet.
Laut Tagesordnung geht es stets um alles, mal steht Innere Sicherheit im
Fokus, mal Rechtsradikalisierung, Migration, Klimawandel, aber auch Bienen,
Bildung, Wirtschaftsdaten, Militäretat und die unvermeidliche Pandemie
laden zum Heißreden ein. Ein Dutzend Schauspielende geben die Politiker,
ohne sie aber durch Mimik, Gestik, Bewegungen kenntlich zu machen.
Wenn zwei aufeinander folgende Sätze von unterschiedlichen
Parlamentsmitgliedern stammen, ist das nicht an der Darstellung abzulesen,
sondern nur an der Musik. Klar zugeordnet sind aber die Sitzplätze im
Tribünenhalbrund des Bühnenbilds – von links, den Linken, bis rechtsaußen …
nun ja. Höchst realistisch auch, dass nur ein Bruchteil der vielen
Klappstühle besetzt ist.
Brody hat den Rhythmus aus der Intonation und den Akzentuierungen der
Redebeiträge herausgearbeitet und eine Melodie aus dem Singsang, der
Tonlage sowie dem Dialekt der Stimme extrahiert und beispielsweise in einem
Streicherklangteppich eingewoben oder für eine mal stockende, mal
klangplusternde Solovioline notiert.
Wobei nicht der Inhalt interpretiert oder kommentiert wird, nur die Art zu
artikulieren musikalisch imitiert. Mit den für die Figuren ausgewählten
Instrumenten – etwa Trompete, Bratsche und Pauke für die Kanzlerin –, und
dem Arrangement der Klänge deutet Brody wie in der Oper dann auch Gefühle
an, die hinter den Worten lauern, sie schützen, stützen, befeuern oder
ihnen auch mal widersprechen.
Passend dazu eskalieren auf der Bühne die Debatten, wobei das Orchester des
Öfteren die Schauspieler übertönt. Ihre Sprechgesangspassagen erheben sich
aber stets wieder aus einem grundgrummeligen, in Zitaten quer durch die
Musikgeschichte schwelgenden Orchesterklang, ohne dass beides kompakt
miteinander verzahnt oder gar wagnerianisch durchkomponiert ist.
Für Fans alter Prononcierkunst ist der Abend ein Ereignis. Denn die
gestreng in der Partitur fixierten Sprechkünstler haben sich super präzise
Betonungen antrainiert, während sie über die Melodielinien kraxeln,
gleiten, rasen oder flanieren. Da nur selten Einigkeit auf der Bühne
herrscht, gibt es kaum chorische Unisonopassagen.
Zu erleben aber ist, dass nicht klassisch dialektisch gestritten wird –
Rede, Gegenrede und ein Kompromiss als Synthese –, sondern jede Aussage
schnell zu Vorwürfen führt, eingebracht von der AfD oder von ihr
provoziert. Was politisch und auch dramaturgisch zu einem großen Problem
wird. Denn der Unsinn, den die Gaulands und Weidels da teilweise
propagandistisch verbreiten, wird nicht argumentativ widerlegt, sondern
verhöhnt, veralbert, empört zurückgewiesen oder niedergeschrien. Das wirkt
höchst leidenschaftlich, aber eben auch recht ritualisiert. Nicht mehr
Demokratie wird gelebt und gearbeitet, sondern Abgrenzung zur Politshow.
Konsequent entwickelt sich die Klangsprache schließlich in ein wild
tönendes Durcheinandergerede der Instrumente und Schauspieler –
Disharmoniepathos.
Satirischer Höhepunkt ist der Affront des inzwischen ehemaligen Hamburger
SPD-Abgeordneten Johannes Kahrs in Richtung Alexander Gauland: „Hass macht
hässlich, schauen Sie mal in den Spiegel.“ Aber es gibt auch einen bewegen
wollenden Höhepunkt: Nachdem der Grünen-Antrag, Kinder aus dem
Flüchtlingslager auf Lesbos aufzunehmen, abgelehnt wurde, bekennt in der
nächsten Szene, drei Wochen später, ein Abgeordneter (Helge Lindh, SPD)
seinen Irrtum bei dieser Entscheidung, während im Hintergrund die Bilder
vom brennenden Lager Moria flimmern.
Die Frage ist: Braucht man dafür die Musik, und hilft sie dem Reenactment
von Parlamentssitzungen sowie einer Vermittlung der angesprochenen
Probleme? Eindeutig: jein. Was Brodys Tonsetzerkunst der Wortebene
hinzugewinnt, könnte auch jeder Oldenburger Schauspieler allein durch seine
Darstellungskunst vermitteln. Und mehr zu verstehen gäbe es dann auch. Aber
schöner klingt Politikerdeutsch natürlich durch die Klangveredelung, wird
zum sinnlichen Genuss trotz der bitteren Streitnoten.
31 Jul 2021
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Oldenburg
Theater
Musiktheater
Bundestag
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Musiktheater
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