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# taz.de -- Abriss eines Architekturjuwels: Brutal gut in Moabit
> Ein Bau aus den 1970'ern sorgt für Aufruhr: Er soll Wohnungen und Gewerbe
> weichen. Nun kämpfen Anwohner:innen für seinen Erhalt.
Berlin taz | Dass es sich hier um keine gewöhnlichen Gebäude handelt, sieht
man dem Ensemble in der Rathenower Straße in [1][Moabit] direkt an: Der mit
rotem Backsteinen verklinkerte Bau erinnert ein wenig an eine Mars-Basis
aus einem alten Science-Fiction-Film. In die Fassade sind halbrunde Säulen
eingelassen, mit Fenstern, die an Bullaugen erinnern. Aus der Rückseite des
asymmetrischen Gebäudekomplexes ragen diagonale, etwas brachial wirkende
Betonstreben in den dahinter liegenden Park. Vor dem Gebäude ist ein
begrünter Wall aufgeschüttet, von dem man über Brücken direkt auf eine
Terasse in der erste Etage gelangt. Abgeschlossen wird das Ensemble von
einem achtetagigen Hochhaus, das an einen Kirchturm erinnert.
Der Komplex ist ein Vertreter des Brutalismus, eines in den 1970er Jahren
populären Baustils, der in letzter Zeit unter
Architekturliebhaber:innen wieder verstärkt Wertschätzung gefunden
hat. Ein bemerkenswertes Stück Architektur also – von der ein großer Teil
bald abgerissen werden soll. Der Bezirk und der Eigentümer, die
landeseigene Wohnungsbaugesellschaft WBM, wollen hier unter anderem Platz
für dringend benötigten Wohnraum schaffen. Das sorgt nicht nur für
Konflikte mit Architekturliebhaber:innen: Auch etwa in der Jugendarbeit
tätige Vereine, die das Gebäude derzeit noch nutzen, klagen, dass sie sich
die hohen Mieten eines Neubaus nicht würden leisten können.
Und: Der Fall wirft Fragen nach dem Umgang der Stadt mit ihren
Liegenschaften auf. Aus ökologischer Sicht ist angesichts der Klimakrise
jeder vermeidbare Abriss einer zu viel. Wie viel Nachverdichtung ist
zumutbar? Was macht die architektonische Identität der Stadt aus? Wie viel
Neubau kann sie sich noch leisten, wenn sie ihre Klimaziele einhalten will?
Die Anwohner:innen-Initiative „Wem gehört Moabit?“ will den Abriss
verhindern. „Die Fliesen sind sogar noch original!“ Die Begeisterung ist
Architektin Theresa Keilhacker deutlich anzumerken, als sie durch den
größtenteils verwaisten Flachbau in der Rathenower Straße 16 führt. Die
Einrichtung der knallgelb gefliesten Küche wurde zwar schon herausgerissen,
aber ansonsten sei das Gebäude in einen nutzbaren Zustand. „Die Räume sind
perfekt für die Jugendarbeit geeignet“, stellt sich Keilhacker die
zukünftige Nutzung vor.
## Als Wohnheim gedacht
Die Gebäude sind Teil eines in den 70er Jahren errichteten Kinder- und
Jugendzentrums. „Die Idee war, einen Ort zu schaffen, an dem Heranwachsende
durch ihre gesamte Kindheit bis zur Jugend begleitetet werden können“,
erklärt Keilhacker den Grundgedanken des Ensembles, zu dem auch das
anliegende Freizeitzentrum mit Jugendklub „Zille“, eine Kita, eine
Grundschule und eine Turnhalle gehören, die ursprünglich im selben Stil
errichtet worden sind. Der Flachbau und das Hochhaus waren als Wohnheim für
Kinder und Jugendliche gedacht.
„Das Ensemble ist ein wichtiges Zeugnis seiner Zeit“, stellt Keilhacker
klar, die Architektur vereine Form und Funktion in eleganter Art und sei
damit Ausdruck eines „sozialpädagogischen Reformwillens“, der heute wieder
„hohe Aktualität besitzt“.
Die Pläne Berlins, den Flachbau samt Erdwall abzureißen und ihn durch einen
achtgeschossigen Bau in U-Form zu ersetzen, sorgen daher für Entsetzen in
der Fachwelt. Die ursprüngliche Idee der Architekten würde dadurch komplett
zerstört, es entstünde „ein nicht zusammenpassendes Konglomerat
inhaltsleerer Gebäudefragmente“, heißt es in einem im vergangenen Jahr
veröffentlichten offenen Brief Keilhackers und zweier weiterer
Architekt:innen, der unter anderem an Senatsvertreter:innen
adressiert war.
## Baukulturelles Erbe Berlins
Doch das Landesdenkmalamt sieht das anders und hat dem Ensemble nach einer
Prüfung keinen Denkmalwert bescheinigt. „Der ursprüngliche Entwurf wurde
immer weiter verändert und in seinen Qualitäten gemindert“, begründet
Sprecherin Christine Wolf die Entscheidung des Amtes. Über die Jahre seien
zahlreiche Veränderungen vorgenommen worden, so seien die markante
Klinkerfassade und der Sichtbeton bei der Kita und dem Jugendklub durch die
angebrachte Wärmedämmung nach der Sanierung nicht mehr sichtbar. Dadurch
sei ein wesentliches verbindendes Element verloren gegangen, „Auf Grundlage
des derzeitigen Kenntnisstandes liegen dem Landesdenkmalamt keine Hinweise
vor, dass die Kriterien für ein Baudenkmal erfüllt werden“, resümiert Wolf.
Allerdings ist die Sorge um das baukulturelle Erbe Berlins nicht die
einzige, die die Abrissgegner:innen bewegt. Nach der Aufgabe des
Kinder- und Jugendheims bot die Anlage Platz für zahlreiche Träger, die vor
allem in der Sozial- und Jugendarbeit tätig sind, darunter das S.O.S.
Kinderdorf, der Drogennotdienst, die Obdachlosenhilfe Kiezküche und den
Moscheeverein Haus der Weisheit. Ein Grund dafür ist die im 25 Jahre alten
Bebauungsplan festgelegte Nutzung, die auschließliche „Gemeinbedarf“
vorsieht.
Doch Keilhacker befürchtet, die für den Neubau notwendige Änderung des
Bebauungsplans würde eine langfristige soziale Nutzung des Areals
verwässern. Das im neuen Bebauungsplan vorgesehene „urbane Gebiet“
ermöglicht auch Gewerbe und Wohnungen. „Die jetzt dem Gemeinbedarf
gewidmeten Nutzungen wären nicht mehr garantiert“, so die Architektin.
Durch die Änderung des Bebauungsplans sei es aber möglich, das Gelände
endlich gewinnorientiert zu entwickeln: „Die Stadt verhält sich wie ein
privater Investor“, kritisiert Keilhacker.
## Vereine verließen den Bau
Noch 2010 sollte das vormals im Besitz des Berliner Immobilienverwalters
BIM befindliche Ensemble komplett abgerissen und an private Investoren
verkauft werden. Doch dann steuerte der Senat in letzter Sekunde um, und
beschloss, auf dem Gelände eine gemeinwohlorientiertere Nutzung in
Landeshand zu realisieren. Insgesamt 140 Wohnungen sollen entstehen, davon
ein Drittel für bedürftige Gruppen wie unbegleitete Jugendliche sowie ein
Großteil der Gewerbefläche für soziale Nutzungen. „Ohne Abriss des Erdwalls
und des zweigeschossigen Anbaus wäre die Entwicklung als Wohnstandort in
dieser Form nicht möglich“, begründet Mittes Baustadtrat Ephraim Gothe
(SPD) die Pläne gegenüber der taz.
Doch seitdem die Abrisspläne konkreter wurden, verließen immer mehr Vereine
den Flachbau, sofern sie alternative Räumlichkeiten gefunden hatten. „Wir
hätten in eine Turnhalle ziehen können, die hätten wir uns aber mit einem
anderen Verein teilen müssen“, berichtet Dieter Burmeister, der
ehrenamtlich beim Haus der Weisheit aktiv ist. Der Moscheeverein hat als
letzter Mieter noch keine Ausweichmöglichkeit gefunden, dabei wurde der
Mietvertrag zu Ende Mai gekündigt. In einem Eilantrag wurde von der
Bezirksverordnetenversammlung beschlossen, Ersatzräumlichkeiten für den
Verein zu finden. Bis dahin sei das Haus der Weisheit geduldet. „Wir sind
gerade Besetzer“, sagt Burmeister etwas verschmitzt.
Zwar wurde den Mieter:innen angeboten, Räume im Neubau zu beziehen,
deren Mieten dann mit 10 Euro pro Quadratmeter aber mindestens doppelt so
hoch wie bisher wären. „Ich bin nicht sicher, ob wir das schaffen können“,
schätzt Burmeister die finanzielle Mehrbelastung ein. Baustadtrat Gothe
gibt zu bedenken, dass die niedrigen Mieten das Ergebnis der unterlassenen
Instandhaltung und die Mietverträge von vornherein nur als Zwischennutzung
angelegt gewesen seien. „Das ist allen Mieter:innen bekannt gewesen.“
## Aus ökologischer Sicht problematisch
Unverständlich für die Abrissgegner:innen bleibt, warum das Land das
Gebäudeensemble fast 10 Jahre lang zu großen Teilen leer stehen und
verfallen lassen hat. „Es gibt sowohl in der Umgebung als auch in Berlin
einen enormen Bedarf für soziale Einrichtungen“, erklärt Keilhacker,
„gerade wenn sie wie das Haus der Weisheit auch die migrantisch geprägte
Bevölkerung einbeziehen.“ Auch das räumungsbedrohte Jugendzentrum Potse in
Schöneberg, das seit über zwei Jahren nach geeigneten Ersatzräumen sucht,
hatte im Januar Interesse angemeldet. „Die waren total begeistert“,
erinnert sich Keilhacker.
Aus ökologischer Sicht sei der Abriss äußerst problematisch, kritisiert
Keilhacker. Schließlich handele es sich um weitgehend intakte
Gebäudesubstanz, wenn auch mit einigem Instandhaltungsrückstau. Abriss und
Neubau würden unweigerlich weiteren Müll produzieren und CO2 ausstoßen.
„Wir müssen lernen, den Bestand mehr wertzuschätzen“, fordert Keilhacker.
„Es handelt sich um einen Kompromiss“, wiegelt Gothe hingegen ab. Mehr
Wohnraum, gerade für benachteiligte Gruppen, werde dringend benötigt. 30
Prozent der 140 geplanten Wohnungen seien dafür vorgesehen, sagt Gothe. Der
Erdwall und der dreigeschossige Flachbau seien nicht mehr zeitgemäß, und
schließlich sei es aus ökologischer Sicht „besser, eine höhere
Bebauungsdichte zu ermöglichen, als weitere Grünflächen zu bebauen“.
Doch Keilhacker kritisiert, der Bezirk und die jetzige Eigentümerin, die
landeseigene Wohnungsbaugesellschaft WBM, würden unterschiedliche
Bedarfsgruppen gegeneinander ausspielen und unnötig Ressourcen vernichten.
„Stattdessen sollte lieber der Leerstand in der Umgebung konsequent beendet
werden und endlich das Jugendzentrum behutsam und energieeffizient saniert
werden.“
8 Jul 2021
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## AUTOREN
Jonas Wahmkow
## TAGS
Abriss
Brutalismus
Jugendzentrum
Berlin-Mitte
Architektur
Schwerpunkt Rassismus
Denkmalschutz
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