# taz.de -- Überfall auf die Sowjetunion 1941: Im Fleischwolf der Diktatoren | |
> Der Roten Armee gelang es in Rschew, den Vormarsch der Deutschen zu | |
> stoppen. Fast zwei Millionen Rotarmisten verloren dabei ihr Leben. | |
Bild: Der Kopf der 25 Meter hohen Statue des Soldatendenkmals in Rschew | |
Sergei Petuchow steht in dem kleinen Museum des „militärisch-historischen | |
Suchdienstes“ in Rschew vor der Gedenktafel für Käthe Kollwitz. Rschew, | |
eine Kleinstadt am Oberlauf der Wolga, liegt 180 Kilometer nordwestlich der | |
russischen Hauptstadt Moskau. Am Eingang des deutschen Soldatenfriedhofs | |
mahnt Käthe Kollwitz’ Skulptur „Trauernde Eltern“. Rschew war die blutig… | |
Schlacht in der Geschichte, in der bis zu 2 Millionen Soldaten umkamen. | |
Nebenan ruhen die Gefallenen der Roten Armee. Kollwitz’ Denkmal stand | |
vorher in Vladslo in Westflandern. Dort war Sohn Peter 1914 für „Kaiser und | |
Vaterland“ gefallen. Erst 2014 wurde das nachgebildete Figurenensemble in | |
Rschew eingeweiht. | |
„Anfangs gab es viel Widerstand“, erzählt Petuchow, der Leiter des | |
Suchkommandos ist. „Bei deutschen Soldaten und einer deutschen Künstlerin | |
bei uns erhitzten sich die Gemüter!“ Das habe sich gelegt. Der Friedhof | |
wurde schon 2002 von der deutschen Kriegsgräberfürsorge eingeweiht. | |
Petuchow trägt eine Tarnjacke über einem T-Shirt des Suchdienstes. Die | |
Arbeit wird von der Stadt unterstützt, früher war sie ehrenamtlich. | |
Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Überfall auf die | |
Sowjetunion. An diesem Tag setzt der Suchdienst die im vergangenen Jahr | |
entdeckten Überreste bei. Selten sind es weniger als tausend Gebeine. Meist | |
sind es nur 20 Prozent, deren Identität ermittelt werden kann. | |
## „Attacke um jeden Preis“ | |
Petuchow stammt aus Rschew. Schon als Jugendlicher war er fasziniert, wenn | |
er Orden, Hülsen oder Ehrenabzeichen fand. Er sammelte alles. Im neuen | |
Museum finden sich Nivea-Dosen, Bayers Aspirin-Tabletten und | |
Antimückencreme deutscher Soldaten neben Rasierbestecken und | |
Schuhputzcremes. | |
Rschew hatten die Deutschen im Oktober 1942 besetzt. Die Stadt war Teil der | |
großen Schlacht um Moskau. Stalins Soldaten brachten die deutschen | |
Einheiten an der Moskauer Stadtgrenze zum Stehen. Attacke „um jeden Preis“, | |
„keine Atempause für die Deutschen“, so der Befehl. | |
Bei Rschew gelang es, einen Brückenkopf zu schaffen und die Front | |
einzudrücken. Die deutsche 9. Armee lief Gefahr, abgekoppelt zu werden. | |
Auch Hitler fürchtete das. Rschew sei eine „uneinnehmbare Linie des | |
Führers“ drohte er in einer Radiobotschaft den Soldaten. „Es ist das erste | |
Mal, dass in diesem Krieg von mir der Befehl zur Zurücknahme eines größeren | |
Frontabschnitts gegeben wird“, meinte Hitler. Ende Januar wendete sich das | |
Blatt zugunsten Stalins erneut, in drei Wochen fielen 80.000 Soldaten. | |
## Ein verlorener Sieg? | |
General Georgi Schukow, der Berlin von den Nazis befreite, grüßt auch heute | |
in tadelloser Uniform von Plakatwänden in Rschew. Ein bis zwei Granaten | |
durften pro Tag und Geschütz auf seinen Befehl hin wegen Mangels | |
verschossen werden. Auch Kommandeuren befahl er, Lebensmittel „vor Ort“ zu | |
beschaffen. | |
Die Historikerin Swetlana Gerassimowa bezweifelt in ihrer Dissertation | |
„Schlacht von Rschew, Schukows verlorener Sieg“, gar, dass der Generalstab | |
über die wahre Lage der Truppen informiert gewesen sei und zieht die | |
Vernunft hoher Militär- und Staatsführer in Zweifel. | |
Rschew war nicht nur die blutigste Schlacht aller Zeiten. Die extremen | |
Verluste waren auf zögerliche Kommandeure zurückzuführen, die sich strikt | |
an Vorgaben hielten, vor allem aber Soldaten ohne Schutz und Waffen ins | |
Feuer schickten. Angeblich sollte sich die Hälfte der Angreifer das Gewehr | |
eines Gefallenen auf dem Schlachtfeld besorgen. In 15 Monaten fielen in | |
Rschew und im benachbarten Vjasma mehr als 2 Millionen Rotarmisten. | |
„Wir haben Rschew über Leichenfelder angegriffen.“ Durch „Täler des Tod… | |
seien sie gekrochen, schreibt Veteran Pjotr Michin. Vorbei an Leichen, | |
aufgequollen und voller Würmer, dem Gestank zersetzender menschlicher | |
Körper ausgesetzt. „In sieben Schichten liegen sie manchmal übereinander“, | |
bestätigt auch Petuchow. Falsche Planung der Kampfhandlungen, wenig Technik | |
und mangelnde Truppenführung mussten durch den „menschlichen Faktor“ | |
ausgeglichen werden, schreibt Gerassimowa. | |
## Ein neues Denkmal | |
Die Anerkennung der Stadt als „Ort militärischer Ehre“ ließ auf sich | |
warten. Erst 2007 verlieh Präsident Wladimir Putin Rschew den Titel. Den | |
Angriff auf Moskau hatten Militärs jahrzehntelang als mehrteilige Operation | |
dargestellt, die sich gegen Norden, Süden und das Hinterland wendete. | |
Moskau als Ziel der Wehrmacht kam in dieser Darstellung nicht vor – wohl um | |
Fehler der militärischen Führung zu verbergen. | |
„Ich bin vor Rschew gefallen, in feuchten Niederungen. Der Angriff war uns | |
allen so plötzlich aufgezwungen. Sind’s Jahre, die ich liege? Vor wie viel | |
Tagen, Wochen hat man in diesem Krieg von Stalingrad gesprochen?“, fragte | |
der Dichter Alexander Twardowski schon 1946. Die Verserzählung wurde in | |
das Brückengeländer der Ehrenallee eingelassen, die über den Ufern der | |
Wolga zu einem Obelisken führt. Im Tal dahinter fand ein erbarmungsloser | |
Kampf statt, den das örtliche Museum nachzeichnete. Heute erinnert nur noch | |
ein sowjetischer Flieger auf einem Podest an das Geschehen. | |
Auch Bildhauer Andrei Korobzow wählte den Kranich als Motiv für sein | |
„Denkmal des sowjetischen Soldaten“. Im Sommer 2020 wurde es eingeweiht. | |
Der 25-Meter-Koloss steht auf einer Anhöhe vor Rschew, in einem Park mit | |
Frontküche umgeben von Fotos sowjetischer Soldaten aus Zentralasien, die | |
hier im Einsatz waren. Nachdenklich schaut der Soldat zu Boden, während aus | |
dem Militärhemd Kraniche aufsteigen. | |
Auch das Erbe Stalins wird im Zuge der Erinnerung gesäubert. Anfang August | |
1943 besuchte er erstmals die Front. In Rschew. Weder Repressionen noch das | |
Verheizen der eigenen Kräfte werden ihm zur Last gelegt. Ehrfurchtsvoll | |
wird des Heerführers gedacht. Anfang März 1943 zogen die Sowjets wieder in | |
Rschew ein. Die Wehrmacht war vorher abgerückt. Stalins Befehl, die | |
Heeresgruppe Mitte zu zerschlagen, wurde nicht ausgeführt. Den deutschen | |
Truppen fehlte auch die Kraft, Stalingrad zur Hilfe zur eilen. | |
21 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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