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# taz.de -- Buch über Nicht-Orte in der Literatur: Wo es keine Zäune gibt
> Ein Buch über Nicht-Orte: Dorothee Kimmich denkt in ihrer Studie „Leeres
> Land“ über die Faszination von Gegenden nach, die niemandem gehören.
Bild: Die Wüste, der Nicht-Ort par excellence?
Orte oder Gebiete, die niemandem gehören, haben schon immer die Fantasie
beflügelt; die Beispiele für literarische Niemandsländer sind Legion. Auch
in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist das Terra nullius, so der
aus der römischen Antike stammende Rechtsbegriff, ein beliebtes Motiv.
Erst unlängst ließ Roman Ehrlich in seinem Cli-Fi-Roman „Malé“ die letzt…
Glückssucher einer längst hoffnungslos ruinierten Erde ein heikles Paradies
in der untergehenden ehemaligen Hauptstadt der Malediven finden; ein paar
Jahre zuvor verwandelte in Jochen Schimmangs Roman „Neue Mitte“ eine Gruppe
Aussteiger in einem postdiktatorischen Berlin die Ruinen des ehemaligen
Regierungsviertels in einen Ort der Freiheit und des Aufbruchs.
Die Gründe für das literarische Attraktionspotenzial von herrenlosen
Gegenden liegen für Dorothee Kimmich auf der Hand: Zum einen stehen
Niemandsländer als „Möglichkeitsräume“ gleichsam modellhaft für die dem
„Möglichkeitssinn“ (Musil) verpflichtete Literatur an sich, vermerkt die
Tübinger Kulturwissenschaftlerin in ihrer Studie „Leeres Land.
Niemandsländer in der Literatur“. Zum anderen widersprechen sie dem
aufklärerischen Eigentumskonzept, das seit John Locke Besitz und
Nutzungsmöglichkeiten mit bürgerlichen Rechten und Identität verbindet.
Dieses Konzept fand schon früh Gegner wie [1][Jean-Jacques Rousseau], der
die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, inklusive aller Kriege und
Verbrechen, auf das erste Setzen eines Zaunes zurückführte. Daher bedeutet
für Kimmich die Reflexion über Niemandsländer, „über den Zusammenhang von
Besitz und Nichtbesitz, über den von Kultivierung und Eigentum, über
Kolonialisierung und Inbesitznahme, über Zäune, Grenzen und Gräben bzw.
über deren Verschwinden zu sprechen“.
## Innewohnende Ambivalenz
Gerade heute, wo es mit dem antarktischen Marie-Byrd-Land und dem
Bir-Tawil-Gebiet zwischen Ägypten und Sudan nur noch zwei echte
Niemandsländer auf der Welt gibt, zeige sich die Ambivalenz, die
herrenlosen Gebieten seit jeher innewohnt, besonders deutlich, so die
Autorin: Denn einerseits sind immer mehr Menschen aufgrund von Flucht und
Migration im politischen Niemandsland von Flüchtlings- und Durchgangslagern
zum Warten verdammt.
Andererseits beschäftigt das Nachdenken über Orte ohne exklusive
Eigentumsverhältnisse, mit Ressourcen, die also von allen genutzt werden
können („Commons“), mehr denn je Philosophen, Ökonomen und Soziologen.
Doch kann man, wie die Autorin es tut, im Anschluss an Giorgio Agamben auch
(Konzentrations-)Lager mit entrechteten Insassen zu den Niemandsländern
zählen, oder sind diese nicht eher Beispiele für Foucault’sche
Heterotopien, analog zu Gefängnissen oder Psychiatrien? Kimmichs
Abgrenzungsversuche gegenüber verwandten Raumkonzepten wie auch Marc Augés
„Nicht-Orte“ sind nicht immer überzeugend. Überaus lesenswert ist ihre
Studie gleichwohl.
Zum Beispiel erinnert Kimmichs einleitende Rekonstruktion des
Eigentumsdiskurses daran, wie sehr das aufklärerische Eigentumskonzept in
der Geschichte als willkommene Legitimierung für die Kolonialisierung
scheinbar herrenloser, ungenutzter Gegenden, von Nordamerika bis
Australien, diente. Und zwar ungeachtet der Tatsache, dass „immer schon
jemand da“ war, so die Autorin: „Niemand ist je der erste im Niemandsland.�…
## Grenzen von Eigentum
Von nichts anderem berichtet aber auch der Schlussakt von Goethes „Faust
II“, in dem das Hüttchen mit den sich liebenden, gastfreundlichen Alten
Philemon und Baucis dem Fortschritt störend im Weg steht.
Allein der schönen Aussicht auf sein Kolonisierungswerk wegen befiehlt
Faust die Deportation der beiden Ureinwohner; Mephisto lässt die Hütte
niederbrennen, die Alten sterben. Ein „Kollateralschaden“, so Dorothee
Kimmich, für die literarische Niemandsländer das Nachdenken über die
Grenzen von Eigentum mit der Frage verbinden, „was dieses begrenzte und
begrenzende Eigentum für die Eigentümer bedeuten mag und was mit denjenigen
geschieht, die nichts besitzen“.
Doch geht es in Kimmichs lesenswerter Tour de Force durch die
Literaturgeschichte (mit einem überraschenden Seitenblick auf den
amerikanischen Westernfilm), in der neben Autor*innen wie Theodor Storm,
Gottfried Keller, Franz Kafka oder Elfriede Jelinek auch der zu
antikolonialistischen Weltliteratur zählende Chinua Achebe behandelt wird,
ebenso um das, was mit denen geschieht, die Niemandsländer betreten.
Typisch ist dabei die Verunsicherung, wenn nicht gar Auflösung der
(bürgerlichen) Identität. Diese kann befreiend sein, aber auch
verhängnisvoll, wie in Robert Musils „Drei Frauen“-Novelle „Grigia“, i…
der Protagonist als Möchtegernkolonisator die erotischen Möglichkeiten des
scheinbar herrenlosen Fersentales erkundet, um sich dann in einer Höhle im
Niemandsland zwischen Leben und Tod zu verlieren.
## Verständigung ermöglichen
Für die Literatur können Höhlen und Grotten ebenso Niemandsländer sein wie
Inseln, Ruinen, Stadtbrachen und Banlieues, ja für Kinder sogar das
elterliche Schlafzimmer wie in Michel Leiris’ „Das Sakrale im Alltag“. Als
bevorzugter theoretischer Gewährsmann erweist sich der Autorin, neben
[2][Siegfried Kracauer], der aus der Erfahrung von Exterritorialität
Erkenntnisgewinne schlug, oder Walter Benjamin mit seinem Passagen-Werk,
vor allem Georg Simmel.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte der Soziologe seine Idee der
„Grenzwüsten“, herrenlose Orte des Handels und Verkehrs, an denen „der
Gegensatz nicht zu Worte kommt, ohne dass er doch aufgegeben zu werden
braucht“, an denen also Gegensätze und Differenzen vorübergehend ignoriert
werden, um Verständigung zu ermöglichen.
Ausgerechnet im Werk des heute eher selten gelesenen Aufklärers Christoph
Martin Wieland entdeckt Dorothee Kimmich dabei die größte Nähe zu Simmels
Grenzwüsten-Utopie. In Wielands „Gesprächen im Elysium“, der Insel der
Seligen, können Individuen, die zu Lebzeiten Feinde waren,
friedlich-produktive Totengespräche führen.
Möglich macht dies ein Prozess, den Wieland als „Abschälung“ bezeichnet,
eine, so Kimmich, „Art identitäre Diät, die dazu führt, dass man, von
seiner vermeintlichen Besonderheit absehend, die Ähnlichkeiten mit den
anderen wahrnehmen und im Gespräch ausloten kann“.
Wie schön wäre es, würde eine solche Abschälungsdiät in einer Zeit der
identitätspolitischen Konflikte zum Modetrend werden.
15 Jun 2021
## LINKS
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[2] /Biografie-von-Siegfried-Kracauer/!5357359
## AUTOREN
Oliver Pfohlmann
## TAGS
Literatur
Eigentum
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Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Buch
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