# taz.de -- Linkenpolitiker aus Niedersachsen: „Das ist für mich kein Widers… | |
> Kurde, Jeside, Arbeiterkind, Marxist, Internationalist und | |
> Bewegungslinker: An Mizgin Ciftci hängen viele Etiketten. Nun will er in | |
> den Bundestag. | |
Bild: Seine Eltern waren landlose Bauern: Mizgin Ciftci | |
taz: Herr Ciftci, „Politik wird von Menschen gemacht, und Menschen haben | |
eine Prägung“: Das haben Sie bei Ihrer Vorstellungsrede als Kandidat für | |
die Bundestagswahl gesagt. Was hat Sie geprägt? | |
Mizgin Ciftci: Ich bin 1992 geboren, in Osterholz-Scharmbeck bei Bremen, | |
als Kind kurdischer Eltern. Meine Eltern sind beide in den achtziger Jahren | |
– also noch zur Zeit der Militärdiktatur – vor dem Krieg des türkischen | |
Militärs gegen die kurdische Bevölkerung nach Deutschland geflohen. Ich | |
habe vier Geschwister. Wir sind in einer Sozialbausiedlung aufgewachsen. | |
Mein Vater hat über 30 Jahre als Ungelernter in der Gastronomie gearbeitet, | |
jetzt ist er durch die Coronakrise erwerbslos geworden. Meine Mutter hat | |
geputzt und sich ansonsten um Haushalt und Kinder gekümmert. | |
Waren Ihre Eltern politisch? Also – als Kurde kann man wahrscheinlich nie | |
ganz unpolitisch sein, aber … | |
… ja, das stimmt. Aber politisch wäre vielleicht ein bisschen zu viel | |
gesagt. Mein Nachname „Ciftci“ – das ist einer dieser türkischen Namen, … | |
man Kurden in der Türkei zwangsweise gegeben hat. „Ciftci“ heißt Bauer. | |
Meine Eltern waren landlose Bauern. Ich würde sagen, dass sie ein | |
Klassenbewusstsein hatten. Das habe ich immer vermittelt bekommen. Aber das | |
war natürlich keine ausgereifte politische Weltanschauung. | |
Wer oder was hat Sie politisch sonst noch geprägt? | |
Ich hatte das Glück, dass ich in der Schule einige 68er-Lehrer hatte, die | |
mich sehr gefördert haben. Ich ärgere mich immer, wenn Leute heute auf | |
diese Bewegung schimpfen. Ohne diese Lehrer hätte ich nie so viel Bildung | |
genossen und diese Perspektiven entwickeln können. | |
Und als Student haben Sie dann angefangen, sich politisch so richtig zu | |
engagieren? | |
Ja, ich hatte ein Stipendium der [1][Hans-Böckler-Stiftung] bekommen. | |
Plötzlich konnte ich mich auf das Studium konzentrieren und hatte nebenbei | |
noch Zeit für das politische Engagement. Ich war für den SDS im Asta, habe | |
ein gewerkschaftspolitisches Referat aufgebaut. Aber auch in der kurdischen | |
Community habe ich viel gearbeitet. Der Überfall der ISIS auf die | |
jesidischen Gebiete im Nordirak 2014 hat mich sehr geprägt, da habe ich | |
fast ein Jahr lang nur noch Demos und Soli-Aktionen organisiert. Da war ich | |
auch für den Zentralrat der Jesiden in Deutschland aktiv. Und zunehmend in | |
der Linken und in der Kommunalpolitik. | |
Das ist eine ziemliche Bandbreite: Unipolitik, Internationales, Kommunales | |
… | |
2016 bin ich in den Kreis- und Stadtrat gewählt worden, mit einem | |
sensationellen persönlichen Ergebnis, auf das ich bis heute stolz bin. Es | |
lag daran, dass ich der jüngste Abgeordnete und der einzige mit sichtbarem | |
Migrationshintergrund war und dadurch Leute motivieren konnte, zur Wahl zu | |
gehen, die sich vorher nie angesprochen gefühlt hatten. | |
Sie haben mal gesagt, dass der [2][Anschlag von Hanau] ein prägendes | |
Ereignis für Sie war. | |
Ich hatte eine Woche vorher meinen eigenen Geburtstag mit Freunden in einer | |
Shisha-Bar gefeiert. Und dann wurden in Hanau neun Menschen, die so ähnlich | |
aussahen wie ich, einfach so erschossen. Vorher habe ich so etwas – wie | |
Rostock-Lichtenhagen – immer nur vermittelt wahrgenommen, gelesen oder | |
gehört. Aber Hanau und auch die NSU-Mordserie – das ist mir persönlich auf | |
eine ganz andere Art sehr nahe gegangen. | |
Für ein paar Jahre waren Sie tatsächlich Lehrer, aber nicht lange. Wie kam | |
das? | |
Ich habe als Vertretungslehrer und Referendar vor allem an | |
Brennpunktschulen gearbeitet, zuletzt in Gröpelingen, dem ärmsten und | |
migrantischsten Stadtteil Bremens. Ich habe gerne Bildungsarbeit gemacht, | |
aber mit diesem traditionellen Bildungssystem habe ich mich nie anfreunden | |
können. Ich bin oft auf Widerstände gestoßen. Einerseits fand ich es schön, | |
mit den Kindern und Jugendlichen zusammenzuarbeiten, aber die Bedingungen | |
haben mich gestört. Und dann habe ich von Verdi das Angebot bekommen, als | |
Gewerkschaftssekretär zu arbeiten und hatte das Gefühl, da muss ich mich | |
weniger verbiegen. | |
Wie verwurzelt sind Sie in der kurdischen und jesidischen Community? | |
Ich bin kein praktizierender Jeside. Ich fühle mich dem kurdischen Volk und | |
der jesidischen Minderheit verbunden, aufgrund dieser | |
Schicksalsgemeinschaft, die aus der jahrhundertelangen Unterdrückung | |
entstanden ist. Das steckt in meiner DNA: Dieses Gefühl, als Minderheit nie | |
anerkannt zu sein und immer ums Überleben kämpfen zu müssen. Positiv | |
gewendet aber auch: Der Glaube an die eigene Stärke, an die Kraft, die man | |
aus der Gemeinschaft zieht. Wenn man heute in die kurdischen Gebiete | |
schaut, zum Beispiel Rojava, sieht man diesen heldenhaften Kampf ums | |
Überleben. | |
Auch innerhalb der kurdischen und jesidischen Community gibt es | |
Auseinandersetzungen und widersprüchliche Strömungen – zwischen den | |
Bewahrern und Traditionalisten auf der einen und denjenigen, die von | |
Befreiung, Revolution und Utopie reden auf der anderen Seite. Vor allem von | |
jungen Frauen höre ich, dass der Spagat oft schwer auszuhalten ist. Wie | |
positionieren Sie sich da? | |
Ja, natürlich gibt es diesen inneren Widerspruch. Einerseits gehört man | |
einer verfolgten Minderheit an: Als Kurde in der Türkei durfte man die | |
eigene Sprache nicht sprechen, sich nicht politisch betätigen und so | |
weiter. Als Jeside kommt die religiöse Diskriminierung dazu: In den | |
türkischen Pässen stand unter Religionszugehörigkeit „ungläubig“. Und | |
gleichzeitig ist die jesidische Gesellschaft natürlich keine befreite | |
Gesellschaft, sondern eine, in der es starke patriarchale Strukturen gibt. | |
Und wie lösen Sie diesen Grundkonflikt für sich auf? | |
Als Internationalist sage ich natürlich: Das Patriarchat macht an Grenzen | |
nicht halt. Auch die deutsche Gesellschaft ist eine patriarchale | |
Gesellschaft. Die Errungenschaften, die es hier gibt, sind auch erst | |
erkämpft worden. Wenn ich mir anschaue, wie Frauen in Rojava und der Türkei | |
den Kampf nach vorne tragen, dann sind das für mich Fortschritte. Und das | |
ist ein Kampf, den man nach außen, aber auch nach innen führen muss. Was | |
mich stört, ist eine Form von westlichem, eurozentristischen | |
Pseudo-Feminismus, der mit dem Finger auf bestimmte Gruppen zeigt und sie | |
als besonders rückständig bezeichnet. Das Patriarchat ist aber überall ein | |
Problem. Deshalb muss echter Feminismus grenzenlos sein, Solidarität muss | |
allen Frauen gelten – das ist mir wichtig. | |
Da sind wir bei den ganz großen Entwürfen und Utopien. Wie kriegen Sie das | |
denn eigentlich zusammen mit dem kommunalpolitischen Kleinklein, mit dem | |
Sie sich ja auch andauernd befassen? | |
Das ist für mich gar kein Widerspruch. Da muss ich mir ja bloß die Pariser | |
Kommune anschauen, als erste sozialistische Revolution. Die fing ja nicht | |
ohne Grund im Kleinen, eben in der Kommune an. | |
Das ist schon ziemlich weit weg von einer Kreistagssitzung in | |
Osterholz-Scharmbeck, oder? | |
Na ja, ich denke: Entwürfe für ein anderes Leben müssen so anfangen. Das | |
hat Rosa Luxemburg auch immer gesagt, dass Sozialismus für die einfachen | |
Menschen erfahrbar sein muss. | |
Können Sie mal ein konkretes Beispiel nennen? | |
Der öffentliche Personennahverkehr: Der ist hier in Osterholz so | |
strukturiert, dass er sozial ungerecht ist. Weil eine Bahnfahrt ins 25 | |
Kilometer entfernte Bremen hin und zurück 13 Euro kostet. Wir setzen uns im | |
Kreistag dafür ein, einen sozial gerechteren und ökologisch nachhaltigen | |
ÖPNV zu bekommen. Das klingt jetzt vielleicht nicht revolutionär, aber | |
letztlich sind auch das eben Klassenfragen. | |
Und was wollen Sie dann jetzt in Berlin? | |
Man merkt da natürlich ziemlich schnell, dass die kommunale Demokratie und | |
Selbstverwaltung durch die Schuldenbremse und die strukturelle | |
Unterfinanzierung der Kommunen eigentlich nur noch auf dem Papier | |
existiert. Der Kampf um die demokratische Kommune muss auch in Berlin | |
geführt werden. | |
Die Gestaltungsspielräume für die Linke im Bundestag sind ja nun aber | |
ziemlich gering. In welcher Rolle sehen Sie sich denn da? | |
Man sollte die Oppositionsarbeit nicht geringschätzen. Indem ich | |
Widerspruch zum Ausdruck bringe – gemeinsam mit den Gewerkschaften und den | |
sozialen Bewegungen wie Fridays for Future, Deutsche Wohnen & Co. | |
enteignen, Unteilbar, Black Lives Matter – verändere ich die Gesellschaft. | |
Konkrete soziale Kämpfe auf der Straße tragen wir ins Parlament. Da sind | |
wir ja auch die einzige wirkliche Opposition gegen den Kapitalismus. Alle | |
anderen Parteien verteidigen den bloß mit verschiedenen Nuancen. Auch die | |
Grünen. | |
Andererseits ist die Linke auch oft mit internen Kämpfen befasst. Diether | |
Dehm hat hier im Landesverband lange eine herausragende Rolle gespielt – | |
aber eben auch sehr polarisiert. Jetzt haben Sie ihm [3][den Listenplatz | |
weggeschnappt]. | |
Ach, ich weiß nicht. Ich mag dieses Gerede von Kampfkandidatur und so | |
weiter nicht. Eine demokratische Wahl setzt doch voraus, dass man überhaupt | |
erst einmal eine Auswahl hat. Ich bin mir da mit Diether einig, dass wir | |
uns jetzt auf wichtigere Dinge konzentrieren müssen. Wir stehen vor einer | |
Richtungswahl. Es wird darum gehen, wer am Ende für diese Krise bezahlt. | |
28 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.boeckler.de/de/index.htm | |
[2] /Anschlag-in-Hanau/!5665253 | |
[3] /Linke-stellt-Landeslisten-auf/!5762582 | |
## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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