# taz.de -- Jobsuche bei Menschen mit Behinderung: Ein Ordner voller Absagen | |
> Für Menschen mit Behinderung ist die Jobsuche auf dem allgemeinen | |
> Arbeitsmarkt oft frustrierend. Die gesetzliche Pflicht zur Inklusion | |
> reicht nicht. | |
Bild: Jörn Neitzel hat seinen Job gefunden – doch suchen musste er trotz Aus… | |
BREMEN taz | Die Tür zu seinem neuen Arbeitsplatz steht weit offen, als | |
Jörn Neitzel vom Bürgersteig des Buntentorsteinwegs rechts abbiegt und zu | |
seinem Schreibtisch fährt. Eine Tastatur, zwei Bildschirme, dazwischen Holz | |
und ein Headset – so normal sieht seit einigen Monaten sein Büroalltag aus. | |
Es ist eine Normalität, über die Neitzel glücklicher nicht sein könnte: Er | |
hat einen Job. Seit Oktober letzten Jahres arbeitet Neitzel als | |
Auszubildender zum redaktionellen Mitarbeiter, seitdem hat er einen eigenen | |
Schreibtisch und verfasst barrierefreie Texte für die Bremer | |
Kommunikationsagentur „selbstverständlich“. Doch das war lange anders. | |
„Ich war 20 Jahre lang arbeitslos“, erzählt der 44-Jährige. Von Geburt an | |
hat Neitzel eine Spastik, in seinen Bewegungen ist er stark eingeschränkt | |
und sitzt im Rollstuhl. Nach seiner Ausbildung zum Bürokaufmann hatte er | |
sich zwei Jahrzehnte lang auf Stellen auf dem freien Markt und im | |
öffentlichen Dienst beworben – ohne jeden Erfolg. „Irgendwann habe ich mich | |
auch gefragt: Braucht mich die Gesellschaft überhaupt?“, sagt Neitzel. „Es | |
ging mir ja nicht darum, das große Geld zu verdienen. Aber ich wollte nicht | |
den ganzen Tag zu Hause sitzen – das war für mich nicht der Sinn des | |
Lebens.“ | |
So wie Neitzel ging und geht es in Deutschland vielen Menschen mit | |
Behinderung. Nur knapp jeder Dritte der rund zehn Millionen Menschen mit | |
Behinderung in Deutschland ist laut Daten des Statistischen Bundesamtes | |
derzeit berufstätig. Zum Vergleich: Bei Menschen ohne Behinderung sind es | |
mit 65 Prozent im Verhältnis rund doppelt so viele. | |
Bereits 2009 hatte die Bundesregierung die UN-Behindertenrechtskonvention | |
ratifiziert, die unter anderem eine gleichberechtigte Teilhabe am | |
Arbeitsmarkt fordert. Der Bremer Landesbehindertenbeauftragte Arne | |
Frankenstein glaubt, dass Bremen seitdem zwar „schon erhebliche Schritte in | |
Richtung einer inklusiven Gesellschaft“ gemacht habe. „Aber wir stehen | |
immer noch am Anfang einer Entwicklung.“ | |
Frankenstein sieht vor allem im Übergang von den Schulen auf den | |
Arbeitsmarkt ein großes Problem. „Es darf keinen Automatismus geben, dass | |
Menschen mit Beeinträchtigungen dann nur Angebote aus | |
Behindertenwerkstätten nutzen“, so Frankenstein. | |
Wie schwer es ist, aus diesem Automatismus auszubrechen, hat auch Laura | |
Ellinghaus erlebt. Sie arbeitet heute am Empfang des Bremer Martinclubs, | |
einem Verein, der Menschen mit Behinderung begleitet und betreut. Doch ihr | |
Weg zu dieser Teilzeitstelle im allgemeinen Arbeitsmarkt gestaltete sich | |
schwierig – trotz Realschulabschluss und abgeschlossener Ausbildung zur | |
Fachkraft für Bürokommunikation. „Gerade behinderte Menschen müssen auf dem | |
Arbeitsmarkt noch einen dickeren Dickschädel haben als andere,“, sagt die | |
25-Jährige. | |
Nach ihrem Schulabschluss in Bremen-Nord habe sie sich alleine gelassen | |
gefühlt. Vom Arbeitsamt habe sie direkt die Empfehlung bekommen, zum | |
Berufsbildungswerk für Menschen mit Behinderung zu gehen. Das habe sie | |
frustriert – denn sie habe zwar eine Körperbehinderung, aber könne trotzdem | |
lesen, rechnen und schreiben wie jede andere auch. Ellinghaus lebt von | |
Geburt an mit einer Rückenmarkserkrankung, an manchen Tagen ist sie auf | |
ihren Rollstuhl angewiesen. „Das ist meine Realität“, sagt sie. Doch mit | |
dieser Realität seien viele Arbeitgeber:innen auch heute noch | |
überfordert. | |
„Ich habe zu Hause einen Ordner mit Absagen“, sagt Ellinghaus. Alleine im | |
letzten Jahr habe sie 80 Bewerbungen geschrieben, oft hätten Unternehmen | |
ihr direkt abgesagt – selbst wenn in den Stellenausschreibungen vermerkt | |
war, dass Menschen mit Behinderung bevorzugt eingestellt werden. „Teilweise | |
war dann dieselbe Stellenausschreibung zwei Wochen später wieder online“, | |
sagt Ellinghaus. Die konkreten Gründe für die Absagen habe sie nie erfahren | |
– nur, „dass schon jemand anderes gefunden wurde“. | |
Dabei sind in Deutschland Unternehmen gesetzlich dazu verpflichtet, | |
Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen: Betriebe mit mehr als 20 | |
Beschäftigten müssen laut Sozialgesetzbuch mindestens fünf Prozent ihrer | |
Arbeitsplätze mit Menschen mit Behinderung besetzen. Und auf den ersten | |
Blick scheint die Wirtschaft auf einem guten Weg zu sein: So erreicht die | |
Beschäftigungsquote von Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland mit | |
4,6 Prozent bereits fast das gesetzliche Minimum, wie das arbeitgebernahe | |
Institut der deutschen Wirtschaft schreibt. | |
## Ausgleichsabgaben statt Inklusion | |
Bei näherem Hinsehen sieht die Inklusion in Unternehmen weniger erfolgreich | |
aus: Auch wenn die Fünf-Prozent-Quote erreicht wäre, hätten längst nicht | |
alle potentiellen Arbeitnehmer:innen mit Schwerbehinderung eine Stelle | |
– die Quote ist dafür nicht hoch genug. Und mehr als die Hälfte der 130.000 | |
Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten unterschreiten die geforderte | |
Beschäftigungsquote, rund ein Viertel von ihnen haben gar keinen Menschen | |
mit Schwerbehinderung eingestellt. | |
Stattdessen zahlen diese Unternehmen lieber eine Ausgleichsabgabe von bis | |
320 Euro monatlich je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz. „Für diese Betriebe | |
sollte die Ausgleichsabgabe erhöht werden“, so Frankenstein, „um die | |
Erwartungshaltung deutlich zu machen, dass es sich um eine | |
gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt, die Teilhabe am Arbeitsleben | |
sicherzustellen.“ | |
„Viele große Unternehmen entziehen sich da ihrer Verantwortung“, sagt Jörn | |
Neitzel. Umso glücklicher ist er darüber, nach rund zwei Jahrzehnten | |
Jobsuche endlich ein Unternehmen gefunden zu haben, das ihn mit seiner | |
körperlichen Beeinträchtigung eingestellt hat. „Hier kann ich mich | |
weiterentwickeln“, sagt er. Neitzel fährt ein Stückchen näher an seinen | |
Schreibtisch heran, an seinem Computer öffnet er die Aufgabenliste von | |
heute. Es gibt noch einiges zu tun. | |
5 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Philipp Nöhr | |
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